"Erzähl mir eine Geschichte."
Geschichten üben auf Kinder eine magische Wirkung aus, die stärker ist als alle Belehrungen. Dabei braucht man wenig zu investieren, um Kinder zu fesseln. Nur etwas Zeit. Zweigt man für die Kleinsten ein bisschen davon ab, wird man fürstlich durch ihre Liebe entlohnt.
Vor dem Schlafengehen ist ein guter Zeitpunkt dafür. Auch bei schlechtem Wetter erzählt sich's gut. Oder zu Weihnachten und in den Ferien. Es gibt zahllose Gelegenheiten - Sie werden schon merken, wenn die Kinder an ihrem Ärmel hängen und fragen: "Erzählst du mir eine Geschichte?"
Dann setzen Sie sich am besten mit dem neugierigen, suchenden Geist hin und denken nicht an die Alltagsdinge, die sowieso nie fertig werden. Bügeln zum Beispiel oder Garage aufräumen. Können Sie nein sagen, wenn Kinderaugen Sie erwartungsvoll anschauen? Können Sie Kinder enttäuschen, die nur noch das letzte, erlösende "Ja" ersehnen, um sich dann an Sie zu kuscheln und durch Ihre Geschichte in eine andere Welt einzutauchen?
Ich konnte mich diesem kindlichen Verlangen nie entziehen. Ich will es auch nicht, weil ich weiß, es ist gut angelegte Zeit. Denn es liegt an uns Eltern und Großeltern, ob die Kinder Geschichten zu hören bekommen die ihre Fantasie anregen, weil diese so wichtig für ihr späteres Leben ist.
Nur wenige Dinge können einem Kind mehr Freude bereiten als eine Geschichte, die man ihm erzählt. Frei, aus dem Kopf heraus und nicht abgelesen. Jeder Sinn- oder Unsinn ist erlaubt. Ihre Fantasie lässt alles zusammenwachsen, was scheinbar nicht zusammen gehört. Und ich glaube, dass es nur wenige Dinge im Leben eines Erwachsenen gibt, die mehr Befriedigung verschaffen, als Kindern eine Geschichte zu erzählen.
Für die Großeltern ist es die letzte Chance, den Enkeln etwas mitzugeben, an das sie sich ein ganzes Leben lang erinnern werden. Es ist die einzigartige Atmosphäre, die beim Geschichten erzählen entsteht und in den Kindern nachhallt. Eine Erfahrung, die unsere Kinder später selbst an ihre Kinder und Enkel weiter geben werden - wenn sie es von uns vorgemacht bekommen! Und ganz nebenbei werden wir durch unsere Geschichten sogar "Unsterblichkeit" bei unseren Enkeln erlangen.
Mein Großvater wurde unsterblich. Jeden Tag fieberte ich als Kind dem Zeitpunkt entgegen, an dem seine Geschichten vor meinem inneren Auge unterirdische Höhlen und Schätze, reißende Wasser, glitschige, bemooste Treppen, und gähnende unterirdische Abgründe entstehen ließen und den Weg versperrende Spinnen zu besiegen waren, bevor in einer modrigen Kiste unermessliche Schätze auf mich warteten. Oder Stürme und gekenterte Boote und verlassene Fischerhütten, in die wir uns mit letzter Kraft retteten. Alles ähnelte sich und war doch jedes Mal anders und die kindliche Fantasie setzte alles neu und so zusammen, das am Ende die Welt wieder in Ordnung war.
Später, als Vater zweier Kinder, erzählte ich von Abenteuer suchenden "Rasselbanden", von sprechenden Bäumen, von unheimlichen Kellern, verlassenen Türmen und durch meine spannenden "Fritz und Paul Geschichten" erlangte ich bei den Kindern sogar nachhaltigen Ruhm, die mich heute als Erwachsene drängen, ein Buch darüber zu schreiben.
Jetzt, und ich weiß, es ist das letzte Mal, dass sich Kinder an meine Ärmel hängen, erzähle ich von "Regenmäusen", die in Gummistiefeln gehend mit ihren piepsenden Artgenossen den örtlichen Kindergarten besuchen...Es ist egal, was ich erzähle. Alles ist richtig. Die Kinder warten nur darauf, dass ich anfange: "Es war einmal ..."