Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Warten auf einen Morgenzug

Beim Geburtstagskaffee meines 14- jährigen Enkels wurde mir bewusst, wie viel sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Nicht nur die Interessen der jungen Leute, sondern auch die Anforderungen von Schule und Familie. Das Unbekümmerte ist nackter Rationalität gewichen. Deshalb erschien mir plötzlich die eigene frühe Jugend und Kindheit als außergewöhnliche Zeit.

Wir – meine Schulfreunde und ich - genossen das Leben in vollen Zügen. Der kleine Ort im Leinetal wo ich aufwuchs, war ideal zum Heranwachsen. Geruhsam war das Leben und sorglos. Langsam verstrichen die Jahre und wir Kinder hatten nichts anderes zu tun, als das besondere Aroma jedes neuen Tages zu schmecken und groß zu werden. Sogar damit konnten wir uns Zeit lassen. Riesig, aber friedlich erschien mir unser kleines Dorf. Es bot uns überreichlich Platz zum Spielen. Das einzige was wir brauchten war eine Spur von Fantasie für unsere Abenteuer – und davon hatten wir genug.

Im Frühjahr brachte der Südwind den Duft jener Fliederblüten, die wir unseren Müttern zum Muttertag aus den Hecken am Bahndamm schnitten. Die warmen Sommer waren zeitlos beim Schwimmen im klaren Wasser der "Alten Leine." Im Herbst begann die Ernte und wir verdienten uns jede Menge Taschengeld beim Erbsen pflücken. In den damals noch kalten Wintern fror für lange Zeit der Schlossteich zu und Schlittschuhlaufen oder Eisschollen springen füllte unsere Tage aus. Klatschnass waren unsere Hosen und oft genug auch gefroren - aber krank wurden wir nie. Manchmal tauchten wir ein in das geheimnisvolle Halbdunkel eines kleinen Erlenwäldchens inmitten weißfunkelnder Wiesen und wärmten uns am Lagerfeuer - immer ängstlich darauf bedacht, den verräterischen Rauch klein zu halten. Jeder Moment, jeder Tag und jede Jahreszeit war für uns eine von Geheimnissen durchsetzte, kleine Ewigkeit.

An der nahen Bahnstrecke sammelten wir Steinkohle, welche die Heizer der vorbei schnaufenden Güterzüge mit Absicht herunter warfen. Sie und wir wussten: Dieses schwarze Gold würde am Abend helfen, den riesigen Herd in der Wohnküche aufzuheizen, dessen Wärme unsere Wangen rot und die Augenlider schwer werden ließen.  

Als wir älter wurden, suchten wir neue Abenteuer. Die Drehscheibe am Bahnhof im Nachbarort zog uns magisch an. Dort wurden die dampfspuckenden Dampflokomotiven für die Nacht in den halbkreisförmigen Lokschuppen gefahren. Unbestimmtes Fernweh erfasste uns bei ihrem Anblick.  Wer weg wollte, musste in einen der daneben abgestellten Züge steigen. Nichts war von Dauer, spürten wir und es war, als warteten wir alle auf etwas Unbestimmtes. So interessant unser Dorf auch war, eines Tages würden die Meisten von uns in einen der Morgenzüge steigen und alles Vertraute - Dorf, Schlossteich und Erlenwäldchen - für immer verlassen. Irgendwann geht jeder diesen geheimnisvollen Weg, wussten wir.  Doch bis dahin war noch Zeit. Schließlich war die Gegenwart für uns fast so schön wie das lockende Abenteuer der unbekannten Zukunft.

Während meiner gedanklichen, kurzen Rückschau muss ich gelächelt haben, denn meine Tochter fragte mich, was mich so erheitere. Ich erklärte ihr, was mich beschäftigt hatte: „Reife und Jugend haben einige Ähnlichkeiten. Der einzige Unterschied ist nur, dass die Jugend auf den Morgen- und das Alter auf den Abendzug wartet“ erklärte ich. „Aber die Menge des Gepäcks unterscheidet sich. Das der Jugend für die Reise ins Unbekannte ist überschaubar. Doch beim Warten auf den Abendzug sind die "Reisekoffer" prall gefüllt mit Erinnerungen, Gefühlen und den Erfahrungen eines halben Lebens - oder mehr. Das brachte mich zum Lächeln .“

 
 
 
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