Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Dumme Gans - besser als ihr Ruf

Als ich im Herbst den Bauernhof betrat, um meine Weihnachtsgans zu bestellen, fingen Dutzende der Vögel so infernalisch zu schnattern und zischen an, dass ein ängstlicher Mensch vielleicht das Weite gesucht hätte. Ich kannte das aus vergangenen Jahren und störte mich nicht dran. "So schlecht gelaunt die lieben Tierchen auch sind", erklärte mir der Züchter beim Ausfüllen des Bestellzettels, "sie tun nur so, als würden sie beißen." Das überzeugte mich nicht. Wer, wie ich einmal gesehen hat, wie ein Ganter einen Hund angriff, der einer Gans mit ihren Küken zu nahe gekommen war, wird bestimmt nicht behaupten, Gänse wären Kuscheltiere.

Und dumm sind Gänse, allen Vorurteilen zum Trotz, auch nicht. Im Gegenteil. Statt dumpf vor sich hin zu brüten, sind sie hellwach und das verbunden mit ihrer Sehschärfe machte sie schon immer zur bewundernswerten Wächterin einsam liegender Häuser vergangener Jahrhunderte. Selbst bis zum Beginn dieses Jahrtausends ließ einer der weltgrößten Whiskyhersteller seine edlen Tropen im schottischen Dumbarton von einhundert extra für diesen Zweck angeschafften Gänse bewachen.

"Ihre kleinen Schrullen muss man hinnehmen," meinte der Landwirt. "Ihre großen Vorteile gleichen die kleinen Nachteile locker aus, denn auf dem Markt sie mehr wert, als jede andere Geflügelsorte." Ich gab ihm recht, als ich meinen Weihnachtsvogel bezahlte.

Mit ihrem komischen Watschelgang und dem nervtötendem Zischen sieht unsere Hausgans auf den ersten Blick nicht aus wie ein Vogel, der goldene Eier legen könnte. Ihre Qualitäten zeigen sich erst auf den zweiten Blick. Und die haben es in sich. Nicht ohne Grund hält sie der Mensch seit mindestens 5000 Jahren als Nutztier und sie schenkte ihm im Gegenzug einen lebenswichtigen Schatz nach dem anderen.

Wohlschmeckendes Fleisch stand und steht ganz oben auf der Liste. Aber auch saftige Lebern, Federn für die Betten und Schmalz zum Kochen oder Brotaufstrich sind beliebt. Die Nutzung ihrer Federn zu Pfeilschäften oder Hutschmuck, ihr Fett zur Pflege des Pferdezaumzeugs und ihre Federkiele zum Schreiben aber gehören der Vergangenheit an. Selbst in der Literatur haben Gänse ihren festen Platz. Als Goldene Gans in den Märchen der Brüder Grimm genauso wie bei Wilhelm Busch. Dort beweisen sie Ihre Vielseitigkeit, indem sie nicht nur die Überreste der Bösewichte Max und Moritz in der Getreidemühle verzehren, sondern auch zum Lebensretter werden für den ins Wasser gefallenen Schneider Böck. Ihn fliegen sie - kräftig mit den Flügeln schlagend - hinaus aufs sichere Land.

Busch scheint Wildgänse als Vorbild gehabt haben. Nur Wildgänse sind flugfähig und legen im 100 Kilometer Tempo ohne Unterbrechung 1000 Kilometer zurück. Dabei scheuen sich sibirische Gänse keineswegs, den rund 8000 Meter hohen Himalaya energiesparend in Dreiecksform zu überfliegen. Hausgänse aber haben das Fliegen verlernt. Dafür sind sie gut zu Fuß. Schon römische Gänsehirten ließen die Vögel in Herden aus der Gegend um Trier 1500 Kilometer weit bis nach Rom laufen. Wirtschaftlich ein Unding, denn viel Fett konnten sie dabei nicht ansetzen. Meines Bauern Gänse haben es besser. Ihnen gesteht er - wenn auch nur ein kurzes - dafür aber bequemes und behütetes Leben in überschaubaren Familienverbänden zu. Mögen sie zu Lebzeiten auch "zickig wirken" - nach 15 bis 25 Wochen Mast entfalten sie ausnahmslos - gefüllt mit Majoran und Äpfeln - spät - aber nicht zu spät - ihren verborgenen Charme im Backofen des heimischen Herdes.  

 
 
 
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