Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Die Nacht der Glühwürmchen

Der Anker unseres Segelbootes fiel in einer dänischen Bucht, die idyllisch  auf drei Seiten von Wald umschlossen war. Feierabend. Augenblicklich  herrschte Ruhe. Kein vorbeirauschendes Wasser an der Bordwand und  kein Schlagen der Segel im Mast störte die Stille. Nur das gelegentliche  Rucken des Ankers erinnerte daran, das wir – mein Enkel und ich – auf  dem Wasser schwammen und nicht im Hafen festgemacht hatten.  

Die Stille war trügerisch, denn mit einem sechsjährigen Enkel gibt es wenig  Pausen. Der Segeltag war anstrengend und mich lockte das Glas  Rotwein und ein Fußballspiel, das im Fernsehen übertragen wurde. Den  Enkel lockte das Abenteuer. Eine Insel im Meer, nur 100 m entfernt, die  ihm allein gehören würde, wenn ich nur „ja“ sagte und den  Außenbordmotor ins Schlauchboot hieven würde. Welcher Junge träumt  nicht von Seeräubern, Waschbären und vergrabenen Schätzen auf einer  unbewohnten Insel. Irgendwann sagte ich mürrisch „ja“ und wir setzten  das Ankerlicht, packten Lebensmittel in einem wasserdichten Beutel, Zelt,  Feuerzeug, Axt und Säge, Taschenlampe und Schlafsäcke ins  Schlauchboot und verschlossen die Kajüte. Ja, alles war in Ordnung. Der  Anker hielt und wir machten uns auf den Weg, die Nacht „im Urwald“ zu  verbringen. 

Es war ein kurzer Weg zur Insel. Wir holten uns nasse Hosenbeine und  sandige Füße, als wir das Boot auf den Strand zogen. Das Zelt musste  schnell aufgebaut und Holz für ein Feuer zusammenzutragen werden,  ehe alles im Dunkel der Nacht verschwinden würde.  

Dann, als das Zelt stand und das Feuer zischend durch die Nässe im Holz  nur widerwillig brannte, brach die Sommernacht herein. Wir saßen  schweigend da und schauten aufs dunkle Wasser hinaus. Dorthin, wo ein  winziges, schwankendes Licht den Ankerplatz unseres Bootes anzeigte.  An Bord hatte ich „ja“ gesagt und nun spürte ich die Dankbarkeit meines  Enkels, als er sich lange an mich drückte und seine 

Hand auf meinen Arm legte. 

Das Feuer brannte langsam herunter und wir legten neues Holz nach.  Dann, als es wieder heruntergebrannt war, plötzlich sahen wir sie. Da,  und dort und dort und da hinten noch ein fahles, kaltes Leuchten. Weiße,  glühende Punkte in der Dunkelheit und es wurden immer mehr. Viel mehr.  Plötzlich erstrahlte das Dickicht hinter dem Zelt in zuckender  Festbeleuchtung. Mein Enkel staunte. Glühwürmchen kannte er nur vom  Erzählen. Er sprang auf, fing er ein Insekt - und sein Glühen erlosch.  

Noch zwei Lichter glühten in der Dunkelheit. Sie zuckten nicht hin- und  her. Sie musterten uns. Die Augen eines Tieres, ohne Zweifel. Es schien ein  kleines Tier zu sein, das uns belauerte. Ein Tier, das an Menschen gewöhnt  sein mußte, sonst würde es nicht so nah heran kommen. Aber hier, auf  dieser unbewohnten Insel? Dann kamen die Augen näher, wurden  größer und nun nahm das Tier Konturen an, als es im schwachen Lichtkreis  des Feuers sichtbar wurde. Eine Katze! Eine junge, bis auf die Knochen  abgemagerte, schwarze Katze. Sie verhielt erneut, wich wieder zurück  aber dann überwand sie Ihre Scheu und kam zögernd näher. Sie war am  Ende, das war nicht zu übersehen. Sie war fast verhungert und, dann fraß  sie gierig unsere Nachtverpflegung, die mein Enkel eilig aus dem  wasserdichten Plastiksack herausholte. 

Glühwürmchen, Zelt und Urwald waren vergessen. Die Ausrüstung  würden wir am Morgen holen. Ein Katzenleben war zu retten und das  konnten wir an Bord am besten. Merle nannten wir sie, und nur Minuten  später waren wir mit ihr auf dem Weg zum schwankenden Ankerlicht und  unserer Bordverpflegung.  

Sie fühlte sich wohl in der Wärme an Bord und nahm die Koje des Jungen ganz selbstverständlich in Beschlag. Dafür verbrachte er die Nacht,  "krumm um sie herum liegend", doch das schien ihm egal zu sein, als ich  beide schlafend im Vorschiff sah. 

Jahre sind seitdem vergangen, der Junge sitzt wieder neben mir und  meinen übereinander gestapelten Logbüchern. Ich schreibe diesen  "Reisesplitter." Eine schwarze Katze mit glänzendem Fell schmiegt sich an  ihn und springt auf seine Beine. Seine Merle. Dann, während er ihr Fell  streichelt und sich ihre gelben Augen mit den Seinen treffen, glaube ich  zu ahnen, was er denkt:  

„Erinnerst Du Dich noch an die Nacht auf der Insel mit den  Glühwürmchen und daran, als du fast verhungert aus den Büschen  kamst? 

 

 
 
 
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