Der Anker unseres Segelbootes fiel in einer dänischen Bucht, die idyllisch auf drei Seiten von Wald umschlossen war. Feierabend. Augenblicklich herrschte Ruhe. Kein vorbeirauschendes Wasser an der Bordwand und kein Schlagen der Segel im Mast störte die Stille. Nur das gelegentliche Rucken des Ankers erinnerte daran, das wir – mein Enkel und ich – auf dem Wasser schwammen und nicht im Hafen festgemacht hatten.
Die Stille war trügerisch, denn mit einem sechsjährigen Enkel gibt es wenig Pausen. Der Segeltag war anstrengend und mich lockte das Glas Rotwein und ein Fußballspiel, das im Fernsehen übertragen wurde. Den Enkel lockte das Abenteuer. Eine Insel im Meer, nur 100 m entfernt, die ihm allein gehören würde, wenn ich nur „ja“ sagte und den Außenbordmotor ins Schlauchboot hieven würde. Welcher Junge träumt nicht von Seeräubern, Waschbären und vergrabenen Schätzen auf einer unbewohnten Insel. Irgendwann sagte ich mürrisch „ja“ und wir setzten das Ankerlicht, packten Lebensmittel in einem wasserdichten Beutel, Zelt, Feuerzeug, Axt und Säge, Taschenlampe und Schlafsäcke ins Schlauchboot und verschlossen die Kajüte. Ja, alles war in Ordnung. Der Anker hielt und wir machten uns auf den Weg, die Nacht „im Urwald“ zu verbringen.
Es war ein kurzer Weg zur Insel. Wir holten uns nasse Hosenbeine und sandige Füße, als wir das Boot auf den Strand zogen. Das Zelt musste schnell aufgebaut und Holz für ein Feuer zusammenzutragen werden, ehe alles im Dunkel der Nacht verschwinden würde.
Dann, als das Zelt stand und das Feuer zischend durch die Nässe im Holz nur widerwillig brannte, brach die Sommernacht herein. Wir saßen schweigend da und schauten aufs dunkle Wasser hinaus. Dorthin, wo ein winziges, schwankendes Licht den Ankerplatz unseres Bootes anzeigte. An Bord hatte ich „ja“ gesagt und nun spürte ich die Dankbarkeit meines Enkels, als er sich lange an mich drückte und seine
Hand auf meinen Arm legte.
Das Feuer brannte langsam herunter und wir legten neues Holz nach. Dann, als es wieder heruntergebrannt war, plötzlich sahen wir sie. Da, und dort und dort und da hinten noch ein fahles, kaltes Leuchten. Weiße, glühende Punkte in der Dunkelheit und es wurden immer mehr. Viel mehr. Plötzlich erstrahlte das Dickicht hinter dem Zelt in zuckender Festbeleuchtung. Mein Enkel staunte. Glühwürmchen kannte er nur vom Erzählen. Er sprang auf, fing er ein Insekt - und sein Glühen erlosch.
Noch zwei Lichter glühten in der Dunkelheit. Sie zuckten nicht hin- und her. Sie musterten uns. Die Augen eines Tieres, ohne Zweifel. Es schien ein kleines Tier zu sein, das uns belauerte. Ein Tier, das an Menschen gewöhnt sein mußte, sonst würde es nicht so nah heran kommen. Aber hier, auf dieser unbewohnten Insel? Dann kamen die Augen näher, wurden größer und nun nahm das Tier Konturen an, als es im schwachen Lichtkreis des Feuers sichtbar wurde. Eine Katze! Eine junge, bis auf die Knochen abgemagerte, schwarze Katze. Sie verhielt erneut, wich wieder zurück aber dann überwand sie Ihre Scheu und kam zögernd näher. Sie war am Ende, das war nicht zu übersehen. Sie war fast verhungert und, dann fraß sie gierig unsere Nachtverpflegung, die mein Enkel eilig aus dem wasserdichten Plastiksack herausholte.
Glühwürmchen, Zelt und Urwald waren vergessen. Die Ausrüstung würden wir am Morgen holen. Ein Katzenleben war zu retten und das konnten wir an Bord am besten. Merle nannten wir sie, und nur Minuten später waren wir mit ihr auf dem Weg zum schwankenden Ankerlicht und unserer Bordverpflegung.
Sie fühlte sich wohl in der Wärme an Bord und nahm die Koje des Jungen ganz selbstverständlich in Beschlag. Dafür verbrachte er die Nacht, "krumm um sie herum liegend", doch das schien ihm egal zu sein, als ich beide schlafend im Vorschiff sah.
Jahre sind seitdem vergangen, der Junge sitzt wieder neben mir und meinen übereinander gestapelten Logbüchern. Ich schreibe diesen "Reisesplitter." Eine schwarze Katze mit glänzendem Fell schmiegt sich an ihn und springt auf seine Beine. Seine Merle. Dann, während er ihr Fell streichelt und sich ihre gelben Augen mit den Seinen treffen, glaube ich zu ahnen, was er denkt:
„Erinnerst Du Dich noch an die Nacht auf der Insel mit den Glühwürmchen und daran, als du fast verhungert aus den Büschen kamst?