Texte sind selten endgültig fertig. Aufgrund der Länge dieser Reise und der besuchten Regionen in Russland sind meine unterwegs gemachten Notizen und kleinen „Mitbringsel“, z.B. Gegenstände wie Visitenkarten, Hotelrechnungen, Steine, Prospekte, Stadtpläne u.ä. noch nicht sortiert und geordnet. Erschwerend kommt hinzu, dass ja das Allermeiste in russischer Sprache abgefasst ist und erst übersetzt werden muss. So gesehen wird dieser Text wohl niemals ganz fertig. Aber wichtig ist, dass Sie mich verstehen.
Das Hinauskommen aus Wolgograd durch den dichten Verkehr am späten Morgen war zeitraubend. Zwei Städte gehen in südöstlicher Richtung Wolgabwärts gesehen ohne wirklich erkennbaren Übergang ineinander über und die zurückzulegende Strecke ist etwa 50 Kilometer lang.
Die erste Schleuse, die den Wolga Don Kanal miteinander verbindet.
Ich erwähnte schon: Die Flussysteme der Wolga und des nur knapp 100 km weiter westlich fließenden Don, werden nur durch einen niedrigen Höhenzug - die über 1000 km lange Wolga Platte - getrennt, den der künstliche Wolga-Don Kanal durch mehrere Schleusen und Staustufen überwindet. Südöstlich von Wolgograd beherrscht eine natürliche Einkerbung des Höhenzuges die Landschaft, den die Kanalbauer nach vielen Fehlversuchen zuvor, ausgenutzt haben, um diese Schifffahrtsstraße zu schaffen.
Seitdem ist durch diesen Kanal die Schifffahrt zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer möglich geworden mit allen Folgen und Vorteilen für die Region und auch darüber hinaus, denn auch Kasachstan, dessen Grenze zu Russland nur 40 km von Astrachan entfernt beginnt, profitiert davon. Und auch die Erdöl Gebiete um Baku.
Ich aber folge nicht dem Kanal. Ich folge der Wolga weiter flussabwärts und werde von einer Landschaft empfangen, die ganz anders ist als die Gegend, die ich bisher durchreiste. Und das, was den Luftraum über der noch unbekannten Landschaft belebte, unterschied sich ebenfalls von meinen bisherigen Erfahrungen. Mückenschwärme empfingen mich, die aber nichts mit der Bezeichnung des Landes, das sich rechts der Wolga, flussabwärts erstreckt - "Kalmückien" - zu tun haben, durch das mich mein weiterer Weg nun führt. Kalmücken sind ein westmongolischer Volksstamm, der hier heimisch ist und eine Republik Russlands bildet. Die Mücken selbst scheren sich nicht um solche Feinheiten. Sie keimen in den Wassern der Wolga und sie vermehren sich prächtig.
Mücken, so weit das Auge reicht. Mücken, die wirklich lästig sind, mich umschwirren, sich auf mir zur Ruhe setzen - oft mit tödlichem Ausgang - die mich aber merkwürdigerweise nicht stechen! Dafür kriechen sie in alle Körperöffnungen. In der Nase bleiben sie meist hängen, was zum Niesen reizt. Im Mund auch, aber eben nicht immer und selbst am nächsten Tag kamen die süßen Viecher - ich bezeichne sie bewusst so - aus irgendwelchen mir in meinem Inneren unbekannten Ritzen wieder ans Tageslicht.
Sie waren ein Schrecken, der aber mit der Gewöhnung an sie viel von seiner Lästigkeit verlor. Und, die Mücken schmeckten nach Honig, wenn ich - abgelenkt durch meine fotografischen Tätigkeiten - einen dieser Eindringlinge gedankenverloren zerbiss. Groß wie Johannisbeer Kerne, genau so knackig wie diese und dabei süß wie Honig. ich fragte mich im Stillen, woher sie den süßen Geschmack nehmen und ob sie vielleicht - wie unsere Bienen - Honig sammeln? Sind sie also in Wahrheit "Honigmücken?"
Ein mir bekannter Mitautor, dessen vorrangige Tätigkeit als emeritierter Professor der Tierschutz ist und dem ich mein Mückenproblem von unterwegs aus telefonisch schilderte, versuchte keineswegs mich aus Gründen des Tierschutzes vom Zerbeißen der Mücken abzubringen, sondern schlug vor, aus den Viechern ein Geschäft zu machen! Ein süßes Geschäft und so abwegig ist die Idee gar nicht, wenn sichergestellt ist, dass die "Viecher" auch zuverlässig, durchgehend und verlässlich süß schmecken!
Ich weiß, es klingt komisch, aber mir schmeckten die Viecher. Diese schmackhafte Eigenschaften der "Wolgamücken" schien den Einheimischen nicht bekannt zu sein. Oder ihnen fehlt es am "Feingeschmack." Sie verbrachten ihren Arbeitstag unter Imkerhauben und hielten sich so die schmackhaften Plagegeister vom Leibe. Egal ob Landarbeiter, Straßenarbeiter und oft auch Angler: Fast alle Leute, die mir begegneten, trugen Imker Hauben als Schutzbekleidung.
Und nun mache ich es mir nicht einfach, wenn ich Sie bitte, den Blick auf die folgende Bilderreihe zu werfen. Bilder können manchmal mehr erzählen, als ich es mit meinen Beschreibungen tun könnte. Sie zeigen die Welt, wie sie zwischen den Metropolen aussieht und ausdehnt. Ich wähle den Begriff "Ausdehnt" bewusst, denn zwischen den Dörfern liegen meist viele Kilometer Landstraße, an der nur ab und zu eine einsame, gut abgesicherten Tankstelle für Abwechslung sorgt. Bei der man vorher bezahlen oder 5000 Rubel hinterlegen muss. Sonst bleibt der Zapfhahn zu.
Weiter unten, bei den Fotos von Astrachan, werden Sie erkennen, wie die Entwicklung des ländlichen und städtischen Russlands auseinander strebt.
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Auch hier regnet es. Manchmal sturzflutartig. Dann füllen sich diese ausgewaschenen Schluchten mit reißenden Wassern, die der trockene Boden nicht so schnell aufnehmen kann.
Manchmal ist es ein merkwürdiger Kontrast. Karge Steppe, kleines Dorf, welches wirklich nicht mit Reichtümern gesegnet erscheint und eine Kathedrale, die alles überragt sowohl in der Höhe, Ausdehnung als auch mit ihrer Pracht. Meistens, denn ich habe auch Kirchen gesehen, denen ganz sicher das Geld ausgegangen war, so verfallen erschienen sie
Die weiße Stadt am Meer.
Die erste Vorstellung traf zu, die Zweite nicht. Weit und breit war kein Meer zu sehen, weil noch ein gehöriges Stück Wolga Delta - rund hundert Kilometer - die Stadt Astrachan vom freien Wasser des Kaspischen Meeres trennt.
Doch in der Stadt war genügend schifffahrtliches Treiben zu sehen und zu erleben, wenn man wollte. Dockanlagen in der Ferne stromauf- und stromabwärts und eine attraktive Promenade zierten den Strom dort, wo sie
hingehört: Ins Zentrum der weißen Stadt.
Wenn auch der erste Eindruck dieser großen Stadt sehr angenehm war, zog es mich nicht unbedingt ins Zentrum. Das verschob ich auf später. Mich zog es ins Hotel, das wieder einmal an einer Stelle stand, an der ich nie und nimmer ein 4 Sterne Haus erwartete hätte. Es dauerte eine Weile, ehe ich das schicke Haus gefunden hatte und es hätte noch länger gedauert, wenn nicht ein freundlicher Taxifahrer, der einem Kirgiesen ähnlich war, mich zum Hotel geleitet hätte.
Für einen sich auf touristischen Abwegen befindlichen "Njemetz" scheinen die Russen Sympathie zu haben, denn ehrlich entrüstet lehnte der Fahrer eine Bezahlung ab und fuhr, jede weitere Diskussion erstickend, hupend und winkend davon!
Ich befand mich tatsächlich auf touristischen Abwegen. Mit dem Auto kommt in diese Gegend so gut wie niemand aus Deutschland und wenn doch, verlieren sich die Wenigen in der Größe des Landes. Deutsch ist nie zu hören und so war ich überrascht, als ich bei einer letzten Runde mit dem Auto an diesem Tage um den Häuser Block durch eine Polizeikontrolle angehalten wurde, zum zweiten Mal bisher und ich führe es auf meine devensive Fahrweise zurück, dass dies nicht öfter passierte. Denn Polizeikontrollen sind in Russland fast so häufig wie es Tankstellen gibt.
Der Polizist - nachdem er meine Nationalität durch das D- Schild am Heck des Autos geklärt hatte - mich aufforderte, deutsch zu sprechen!
Ein Kalmück, der das Aussehen eines Kirgisen hatte, sprach Deutsch. Ich war nicht sprachlos, denn ich sollte ja deutsch sprechen, aber überrascht.
Ihm schien an den verlangten Papieren nicht viel zu liegen. denn soweit gingen seine Kenntnisse der deutschen Sprache nicht.
Das wurde schnell erkennbar, als er den KFZ Schein mit amtlicher Mine und großem Ernst durchblätterte, ich ihm jedoch dabei helfen musste, das für ihn Unleserlich in Worte zu fassen. Er schwieg.
Beim Wort Mercedes aber kam Regung in seine Mine. Er blickte auf und so merkte ich - er hatte vorher kein Wort verstanden.
Meine Vermutung, er wolle lediglich an jemandem, der selten in dieser Gegend auftaucht, seine Sprachkenntnisse testen, war sicher nicht unbegründet.
Die Seinen reichten nicht aus, um mir ein Vergehen zu erklären. Das ging mir sofort durch den Kopf, denn schon in den Hotels wurde ich vor solchen Praktiken gewarnt. Die "Warner" ließen aber offen, wie ich mich verhalten solle, wenn dieser Fall tatsächlich einträte.
Dann, als an mir auch beim schlechtesten Willen nichts auszusetzen war - mit Ausnahme vielleicht des mit Mücken verklebten vorderen Nummernschildes - trennten wir uns - Jäger und vergeblich Gejagter - mit Händedruck, ohne das er von mir die befürchtete
"Freilassungs-summe" in Euro für jene Straßenvergehen verlangt hätte, die niemals von mir begangen worden wären. Hätte er gewusst, dass ich für diesen - glücklicherweise nicht eingetreten Fall - ausreichend Bargeld im Brustbeutel deponiert hatte, wäre die Kontrolle vielleicht anders ausgegangen. Vielleicht.
So blieb das einwandfreie Image der russischen Polizei bei mir weiterhin fleckenlos und das kommt beiden Seiten langfristig geshen garantiert zugute.
Der Flugkapitän einer russischen Fluggesellschaft und sein Co-Pilot in ihren reichlich mit Gold verschönerten blauen Uniformen - 4 Goldreifen am Ärmel der Eine, 3 Ringe der andere, machten ein "dummes Gesicht unter ihren mit ebenfalls schwer mit Gold beladenen Kapitänsmützen", als ich mit ihnen gemeinsam das Hotel betrat.
Mein Auftritt war nicht nur peinlich, sondern auch kläglich. Der Kontrast zu den staatlich Eingekleideten war beträchtlich.
Ich bewahrte trotz meines an Robinson erinnernden Aussehens - bedingt durch 500 km Steppenfahrt und ausgedehnten Wanderungen durch trockene Halbwüste - Haltung und demonstrierte deutsche Gelassenheit, als mir nicht ganz unvorbereitet der Boden einer meiner "Reisekisten" nach unten heraus fiel. Der Inhalt der Kiste ergoß sich klirrend und zersplitternd über den Hoteleingang und die Damen hinter dem Rezeptions Tresen rissen erschrocken die Augen auf.
Tauchsieder, Käseecken, Pfirsche, verschieden Brotsorten - einige angeschimmelt, das hatte ich noch gar nicht gesehen, und unterwegs hatte ich davon gegessen! - Kaffetassen, Filtertüten, Essbesteck, Notizbuch - wie kam das denn da rein! - und noch jede Menge anderer Kleinigkeiten, die im weitesten Sinne meiner Ernährung dienten, verteilten sich in der Hotelhalle und über den Schuhen der Uniformiertenund blockierten die Eingangstür. Für die Glaskanne, in der ich morgens mein Kaffeewasser mit einem Tauchsieder erhitzte, war das zuviel. Sie überlebte den Aufprall nicht.
Die ""zweieurofünfig" Faltkiste vom Baumarkt zeigte schon vorher Zeichen der Schwäche und auf ihr baldiges Versagen innerlich vorbereitet, hob ich geistesgegenwärtig, aber in diesem Fall unpassend, mein Knie in den fallenden Inhalt vor dem Aufprall und machte so alles nur noch schlimmer, und dabei war meine verdreckte Hose das kleinste Übel.
Es war das Kaffeemehl der am Morgen frisch geöffneten Kaffeetüte, das sich eruptionsartig in die Umgebung verteilte, als mein hochgerissenes Knie sie traf. Auch die beiden Goldbesetzten bekamen davon ab. Reichlich. Auf blaue Hosen, goldverzierte Ärmel und auch in die Schuhe.
Diesmal erwies sich mein Defizit in der russischen Sprache als Vorteil, denn ich verstand nicht, was sie von sich gaben. Es konnte nichts Gutes sein, denn ihre Mienen sprachen Bände, meine Miene auch, doch jeglicher Grimm auf beiden Seiten änderte nichts an er Situation: Die Hosenbeine, ehemals blau, erhielten einen braunen Überzug.
Die instinktiven Abstreifversuche der Beiden verstärkten den Bräunungs Effekt noch und das freigesetzte Kaffeearoma entfaltete eine intensive, aber unwillkommene Wirkung in der Hotelhalle. So parfümiert konnten die Beiden nicht mehr ins Cockpit steigen, das war mir klar und ich wartete interessiert darauf, was passieren würde.
Nichts passierte. Sie verschwanden kopfschüttelnd und gestikulierend im Fahrstuhl, ich wütend bei den Damen der Reception, die sich schon mit Besen und Schaufel ausgerüstet hatten, die ich ihnen abnehmen wollte, sie mir aber nicht überlassen wollten.
Die Wogen hatten sich schnell geglättet und später traf ich die Beiden wieder in der Lobby. Ihre Blicke hatten den vorwurfsvollen Ausdruck verloren. Sie erschienen freundlich und luden mich ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Und weil sie perfekt englisch sprachen, kam eine Unterhaltung in Gang. So erfuhr ich, dass dieses von mir gebuchte Haus für den nahen Airport das Vertragshotel für das "fliegende Personal" war und Ersatzkleidung permanent vorhanden sei.
Aufregung schlecht, Ende gut.
Die Sonne im südöstlichen Zipfel Europas geht früh unter. Frühe Müdigkeit - der Sonne auf wundersame Weise angepasst - machte sich bei mir bemerkbar und so trennten wir uns freundschaftlich, nicht ohne den Zerfall meiner Transportkiste nochmal lautstark - auch anderen Flugbegleitern, die sich mittlerweile dazugesellt hatten - in einer, wie mir schien - übertrieben lustigen, russischen Version darzustellen.
Der nächste Tag.
Ich wurde früh geweckt, denn man hatte für mich das Frühstück bereitet.
Wieder etwas, was mir bisher fremd war aber so erinnert, aufzustehen, verschlief ich nicht die schönsten Stunden des Tages. "Schönes Wetter" war relativ, denn schon um 9.00 Uhr herrschten 36 Grad, die ich nicht bemerkt hatte, weil die Klimaanlage auf angenehme 20 Grad im Zimmer eingestellt war. Draußen war mir, als liefe ich gegen eine unsichtbare Wand.
Ein Ersatz für die zerfallene Kiste musste her und ich nahm mir vor, ihn zu besorgen. Stabil und gut sollte er aussehen, damit mein Robinson Charakter nicht schon auf den ersten Blick sichtbar wäre. Eine stabile Reisetasche schien das Richtige zu sein. In ihr konnte ich - ungeordnet, aber vor prüfenden Blicken anderer sicher - einen Teil meiner Siebensachen unterbringen. Ich nahm mir vor, sie in einem schon bei meiner Ankunft gesehenen Einkaufstempel zu erwerben. (Siehe Fotos weiter oben)
Und eine zweite Tasche zum Umhängen gleich dazu, damit ich meine "am Körper zu tragenden Utensilien", wie Pass, Geld, Notizbuch und einiges Andere konzentriert zusammen halten konnte. Soviel sei vorweggenommen: Diese Lösung meines "Zersplitterungsproblems" durch die Tasche erwies sich später als ideal, denn notfalls - in unsicheren Gegenden - hätte ich die Tasche auch als Kopfkissen nutzen können...
Bevor ich mehr über Astrachan berichte, hier ein paar Fotos, die ich unter glühender Sonne geschossen habe.
Bevor ich aber zum Taschenkauf aufbrach, musste noch etwas anderes erledigt werden.
Es stank mir.
Im Auto. Zuerst wenig, später mehr und heute so, als hätte ich eine Mülltonne oder tote Maus im Auto. Ich weiß, warum.
Vor einigen Tagen fiel mir beim Fahren der Rest einer Scheibe Brot "irgendwohin" nach unten und ich konnte den Schnippel nicht finden und dann vergaß ich ihn.
Der Gestank kommt weg, schwor ich mir, als er sich penetrant in Erinnerung brachte!
Ich hätte - schon aus Bequemlichkeit - alles auf sich beruhen lassen, wenn es nur Brot gewesen wäre, denn trockenes Brot stinkt nicht. Mit Käse bestrichen ändert sich das. Drastisch.
Ich wurde fündig. Schnell, denn der Geruch wies mir den Weg. Ein winziges Stück nur, doch warum so wenig Käse so viel stinken konnte, blieb mir ein Rätsel. Genauso rätselhaft blieb mir auch, warum ich das Stück zuvor nicht gefunden hatte. Vermutlich braucht der Mensch, um wirklich bereit zu sein, sich bis zum Anschlag zu bücken, immer einen starken Impuls. Käse kann diesen Impuls auslösen, wenn er nur kräftig genug stinkt!
Nach erfolgreicher "Entpestung" der Innenluft meines Gefährtes war die Fahrt ins Zentrum der weißen Stadt das pure Vergnügen. Der Verkehr war noch mäßig, ich wurde "mitgespült" und hatte noch Zeit, die Architektur der Stadt auf dem Wege zum Zentrum zu bewundern. Ich hatte vorgeplant. Der historische Kreml war mein Ziel, die moderne Stadt und die Wolga mit ihrer Promenade.
In den russischen Städten ist es kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Parkuhren oder ähnliche Schikanen gibt es nicht - jedenfalls habe ich Derartiges nicht gesehen - und es findet sich selbst in der Nähe von Sehenswürdigkeiten immer eine Parkmöglichkeit. Ich fand die ins Navi aus dem Stadtplan eingegebene Strasse auf Anhieb unter Schatten spendenden Bäumen.
Hinter mir, mächtig und weiß und auf einem Hügel den halben Himmel beherrschend - der Kreml, von dem aus meiner Perspektive trotz oder gerade wegen der Gewaltigkeit seiner Mauern, Türmen und Kathedralen - nur ein kleiner Teil zu übersehen war. Eine weiße Augenweide offenbarte sich vor mir vor tiefblauem, makellosen Himmel.
Der Anblick heizte meine Unternehmungslust richtig an, und ich machte mich auf den Weg, der sportlich begann. Treppenstufen waren der Preis, der zu zahlen war, nach oben zu kommen. Mein Navi nahm ich mit falls das Auto aufgebrochen würde. Man weiß ja nie...
Man weiß ja nie. In Bezug auf das Navi bekamen diese vier Worte eine andere Bedeutung, als ursprünglich gedacht. Hätte ich gewusst, was mich oben auf dem Hügel erwarten würde, hätte ich zusätzlich zum Navi einen Regenschirm mitgenommen. Aber wer denkt denn an so was!
Die Treppe nach oben an der Südseite des Kreml, die bestimmt weniger als 100 Stufen zählte, machte mir zu schaffen. Die langen Autofahrten bis hierher an die östliche Grenze Europas, waren die Ursache.
„Zuwenig Bewegung“, lautete meine Selbstdiagnose. Schleichend, nicht aber nicht unbemerkt, doch von mir verdrängt, ging meine Kondition nach unten und machte sich nun auf der Treppe durch weiche Knie bemerkbar.
Sonne von oben und Hitze von unten – die richtige Mischung, einem Mitteleuropäer das Fürchten zu lehren. Die von der Sonne aufgeheizten Stufen wurden zur wirklichen Herausforderung und ich hätte mich an den Ohren ziehen können, den roten Regenschirm - nur aus bloßer Eitelkeit! - im Auto gelassen zu haben. Schnaufend besiegte ich schließlich die Treppen und freute mich, dass einer meiner häufig gepriesenen Wahlsprüche „Der Mensch ist immer stärker“, sich auch hier bewahrheitete. "Stell dich nicht so an", hielt ich einen kurzen inneren Monolog, "hast schon ganz andere Stufen bestiegen und dich nicht beklagt." "Aber nicht bei solcher Hitze", rebellierte mein "anderes Ich."
Es war schon so. Die Wärme war enorm, wirklich heiß, über 35 Grad. Dabei war es doch erst Juni, erst Frühsommer! Sechzig Tage früher war die Wolga noch zugefroren! Und im August ist es schier unerträglich hier. Dann steigen die Temperaturen auf über 45 Grad und so besehen,stieg ich zur rechten Zeit die Treppe nach oben. Trotzdem, so viel Wärme hatte ich unterwegs bisher nicht ertragen müssen. Eine neue Erfahrung, aber Neues wollte ich erleben. Deshalb trat ich diese anstrengende Reise an und vielleicht ist es ja gar nicht die mangelnde Kondition, die mir zu schaffen macht, sondern nur die ganz allgemeinen Strapazen der Reise, die sich bemerkbar machen, log ich mir selbst was vor. „Vielleicht, vielleicht auch nicht", sinnierte ich weiter, "vielleicht sollte ich mal einen Ruhetag einlegen."
Zwei Stufen noch, davor eine weiße Steinplatte, dann tauchte ich oben angekommen ein ins Halbdunkel eines der vier Eingangstore zum Kreml. Ich verschnaufte und holte meine Kamera heraus.
Ein Mosaik aus Bäumen, Kathedralen, Treppenstufen, vieleckigen - aber in der Gesamtheit doch runden, mächtigen "Wachtürmen" - mit dunklen Dächern und von weißen Mauern weitergeführt mit Laufgängen im Obergeschoss und bogenförmigen Einbuchtungen darunter bis zum nächsten und dann zum übernächsten Turm lag vor mir.
Und dazwischen verzauberten mein Auge und auch meine Seele breite, helle Wege und blühende Rabatten zwischen kurzgemähten Rasenflächen. Bekannte und unbekannte Bäume und Büsche spendeten den rastenden Besuchern auf schmiedeeisernen Bänken den Schatten, den sie brauchen, um aus ihm heraus in Ruhe und Muße dieses wunderbare, von Menschen Erschaffene zuerst zu betrachten, dann zu begreifen um es später als unvergessliche Erinnerung bewahren zu können.
Noch einmal sah ich zurück auf die Straße unter mir, die ich überquert hatte und stellte mir vor, wie es ausgesehen haben mag, als die Wolga direkt unter mir am Fuße des Hügels zum Kreml, dem Meer entgegen floss. Wie anders muss damals der Platz, auf dem ich stehe, die Umgebung und die Stadt ausgesehen haben. Der Fluss, damals mehr als nur Fluss, war natürliches, lebenswichtiges Bollwerk gegen feindliche Angriffe.
Nichts ist von Dauer. Die Zeit ist vorbei, in der der Fluss Schutz und vielleicht auch Trinkwasser für die Menschen des Kreml liefern musste. Die Oberfläche des Kaspischen Meeres senkte sich allmählich - warum, ist nicht ganz klar. Die übermäßig große Wasserentnahme für Bewässerungsprojekte auf dem langen Weg der Wolga zum Meer werden verantwortlich gemacht für die Senkung des Meeresspiegels und auch die enorme Verdunstung in den riesigen Stauseen, die vor noch nicht einmal 80 Jahren garnicht existierten. Heute fließt der Fluss fünfhundert Meter südlich vom Fuße des Kreml und erfült dort andere, der Zeit angepasste Aufgaben.
Nach dieser Erholungspause trat ich erneut hinaus in die Hitze und in gleißende Helligkeit. Hinein in die Komposition gärtnerischer Kreativität und architektonischer Großartigkeit. In eine Landschaft, die mich magisch zu sich zog und bei deren Ergründung ich die Welt um mich herum vergaß und in der meine Kamera Hochkonjunktur hatte.
"Nimm mit, was Du vor die Linse bekommst", mahnte meine innere Stimme". Fotografiere alles. Auch das, was du nicht lesen oder nicht verstehen oder nicht erfassen kannst. Die Tafel dort, auch den Stein und auch die Skulptur dort hinten. Zuhause ist immer noch Zeit, alles zu ordnen und zu entziffern. Nimm mit! Hier kommst du niemals mehr hin in deinem Leben."
Eine Oase der Stille empfing mich, einer abgelegenen Insel im Blau des Ozeans gleich. Kein Autolärm mehr, keine Hektik aber dennoch herrschte Betriebsamkeit. Nur verlief alles ruhiger, gelassener, gedämpfter. Bewegung überall. Arbeitende Menschen auch und doch wirkte nichts aufdringlich oder störend, eher so, als wären selbst die hier täglich Arbeitenden, dem Zauber der für sie gewohnten Umgebung verfallen. So wie ich.
Die Zeit verging, ich bemerkte es kaum und mit ihr stieg die Sonne zum Zenit und dann verschwamm das Panorama der Landschaft vor meinen Augen und ich war froh, mich auf eine der vielen Bänke unter einem Baum fallen zu lassen. Mir war schwindlig, Ich sah doppelt, Kopfschmerzen quälten mich unverhofft und ich spürte, ich muss hier raus. Raus ins Kühle. Und trinken. Das ging nur im Auto und plötzlich verlor ich die Orientierung in meinem Schwindel und wusste nicht mehr, woher ich gekommen war.
Irgendwo im Kopf funktionierte noch etwas. Mein mitgenommenes Navi fiel mir ein! Dieses technische Wunderding würde mich zum Auto führen. Ich torkelte mehr, als ich lief einem Betrunkenen gleich und mir war, als liefe ich zeitweilig neben mir und jede Bewegung erfolge nicht willentlich, sondern automatisch, ohne meine Kontrolle. Meine neue Tasche - die, die ich auch als Kopfkissen benutzen konnte - hielt ich, die Sonne abdeckend - schutzsuchend über den Kopf. Ich lief auf die Straße durch den Verkehr - in die falsche Richtung. Lief zurück, als mich das Navi zum "Bitte wenden Sie" aufforderte, lief um eine Hausecke, die mir bekannt vorkam, über den Taxiparkplatz, den ich mir als Orientierungspunkt gemerkt hatte und dann, wie eine Insel für einen Schiffbrüchigen im unendlichen Ozean, stand dort mein Auto, das Kühlung und Wasser versprach und dann fand ich in der Aufregung und vom Schwindel unsicher und immer noch nicht scharf sehen könnend, meinen Autoschlüssel nicht in der neuen Tasche.
Es war verrückt. Da stand ich vor der Autotür, mir flimmerte alles vor den Augen und ich konnte die Tür nicht aufschließen. So muss einem Schiffbrüchigen zumute sein, der, angekommen an der rettenden Insel, das Süßwasser nicht erreichen kann, weil eine senkrechte Felswand ihm den Zutritt verwehrt! Ich fand den Schlüssel. In meiner Hosentasche...
Der Rest ist schnell erzählt. Die Klimaanlage brachte meine Lebensgeister erstaunlich schnell wieder in Ordnung. Ich trank anderthalb Liter Wasser, dann nochmal eine Flasche und legte die Rückenlehne meines Autositzes zurück, um meinen schmählichen Rückzug aus dem phantastischen "Park der Sinne" nochmal vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Nochmal gut gegangen. Aber wie schrieb ich weiter oben: "Der Mensch ist immer stärker..." Na ja...das muss ich mal überdenken, vielleicht vergesse ich das Erlebnis auch. Den Park, den Kreml aber, der mich so stark beeindruckt hat, werde ich nie vergessen.
Viel später dann machte ich mich auf den Weg zum Hafen und zur Promenade. Darüber gibt es nicht viel zu berichten. Das können die Fotos besser. Doch meine Eitelkeit hatte ich seit meinem Hitzschlag einen Knacks bekommen und ich seitdem spannte ich den roten Regenschirm so selbstverständlich auf, wie ich meine Schuhe anziehe. Den bewährten Navi steckte ich seitdem immer ein - kein Schritt mehr ohne das Ding! - die Besichtigungstour verkürzte ich und zog zum Ausgleich den Aufenthalt im klimatisierten Restaurant ungewöhnlich in die Länge. Notfalls hätte ich noch ein zweites Menue bestellt, nur, um drin bleiben zu können. Raus hätten mich zu der Zeit, in der die Sonne am heißesten brennt, keine zehn Pferde gebracht.
Ich weiß nicht, ob es Stör war, den ich gegessen hatte. Ich vermute es. Wenn nicht, ist es auch egal. Fisch ist Fisch redete ich mir ein. Mir hat er geschmeckt und dann trank ich - ganz gegen meine festen Vorsätze – schon am Nachmittag einen halben Liter russisches Bier und mir blieb unklar, warum der Alkohol nicht die geringste Wirkung zeigte.
Seit meiner Ankunft in Astrachan ging mir ein Gedanke durch den Kopf, den ich nicht loswerden konnte. Bis zum Kaukasus im Südwesten Russlands sind es anderthalb Autotage. Soll ich - soll ich nicht? Ich schwanke. Hier komme ich nie mehr hin. In den Kaukasus vielleicht auch nicht. Ein ewiges Hin und Her und wieder Hin raubt mir den guten Schlaf. Dann, mitten in der Nacht fasste ich einen Entschluss: Dieses Jahr nicht. Zu weit, zu lange, zu viel Strapaze. Warum auch! Im nächsten Jahr ist auch noch Zeit dafür, wenn gesundheitlich alles gut geht und mit diesem Entschluss fiel eine vorher nicht bewältigte Belastung von mir ab und ich schlief so fest, dass der Küchenchef am Morgen zur vereinbarten Zeit an die Zimmertür klopfen musste, weil ich das Telefon nicht hörte!
Ich will es kurz machen: Das Wolga Delta enttäuschte mich. Die vor Antritt der Reise von mir studierte Literatur beschrieb das Delta als einen Teppich von blühenden Lotusblumen. Vögel aller Arten sollten das
Delta beleben und Fische würden im Überfluss die Gewässer in den Gewässern schwimmen, allen voran der Stör und sogar eine Unterart dieser Fische, der Hausen, der anderthalb Tonnen auf die Waage bringen soll und die im Delta lebenden Kaspischen Robben gelegentlich verspeist. Das mag alles stimmen. Ich zweifle keinen Moment daran. Meine Beobachtungen sind sicher nur ein winziger, unvollständiger Blick in die Welt der dort lebenden menschlichen Bewohner, der Fauna und der Flora, weil mir die Zeit fehlte, weiter in diese Welt vorzudringen.
Wie gesagt, ich zweifle nicht im geringsten daran, dass die von mir studierten Reiseführer recht haben. Wenn sie recht haben und nicht übertreiben, dann bleibt mir nur eine Erklärung: Ich war zum falschen Zeitpunkt am richtigen Platz. Ich sah weder besonders viel Vögel - viel mehr Vögel - vor allem Störche - begegneten mir unterwegs auf dem Weg zur Mündung.
Ich sah keine Lotusblumen, ich sah kaum Angler und schon gar keinen, der einen Stör am Haken hatte. Ich sah überhaupt nichts von dem, was die Reiseführer versprachen. Aber solche Versprechen kannte ich schon vom Rhone Delta in Frankreich. Auch dort sollten Schimmel wild durch die Landschaft traben...die einzigen Schimmel, die ich dort jemals sah - und ich war oft dort unten in Frankreich - waren Schimmel auf der Weide für die Touristen...
Doch ich schweife ab. Hier im Wolgadelta sah ich drei Tiere, die die Reiseführer nicht erwähnten: Kamele. Kamele mit zwei Höckern. Nicht die Tiere mit nur einem Höcker, wie sie in Afrika gang und gäbe sind. Und auch nicht in freier Wildbahn - genau wie die Schimmel an der Rhone - eingezäunt auf einer Weide.
Doch immerhin, plötzlich wurde mir bildlich bewusst, dass ich mich an der Grenze zu Asien/Kasachstan befand und die drei Kamele für mich zum Symbol für die Grenze zu Asien wurden - wenn auch weit weg auf einer Viehweide. Und sie waren Warnung, langsam an meine Rückkehr nach Deutschland zu denken und diese europäisch- asiatische Grenze nicht zu überschreiten - schon wegen des Versicherungsschutzes meines Fahrzeugs...
Ich begnügte mich damit, Kamele statt robbenverschlingender Störe gesehen zu haben und trat den Rückweg ins Hotel an, ärgerte mich aber später, die Kamele nicht fotografiert zu haben. Es wären sehr schlechte Fotos geworden auf eine Distanz von vielleicht 300 Metern, aber trotzdem...Eine Erinnerung, und so wird, glaube ich am besten sichtbar, dass ein Alleinreisender gelegentlich überfordert ist, wenn es gilt, kleine, unwichtig erscheinende Entscheidungen an Ort und Stelle zu treffen, die später wichtig sein können.
Egal, man kann nicht alles haben, tröstete ich mich. Ich habe schon genug gesehen auf dieser Reise und - wer macht schon solche Reisen, wie die, die ich gerade durchführe? Kaum jemand, eine Minderheit und ich bin froh, dieser Minderheit anzugehören, denn einen Deutschen Mitbürger traf ich auf der ganzen Strecke nicht. Nur ein österreichisches Radfahrerehepaar, das nach China radeln wollte! Vor denen hätte ich den Hut gezogen, wenn einer griffbereit gewesen wäre...
Der Zeitpunkt der Reise war von mir nicht umsonst in diese Jahreszeit gelegt worden, in der die Temperaturen alles in allem noch zu ertragen sind. Im Juli oder August, wenn 45 Grad oder mehr im Delta herrschen, bringen mich zwischen die mückenverseuchten Schilf- und Grasinseln keine zehn Pferde.
Deshalb verzichtete ich freiwillig auf alles, was die Reiseführer versprachen und hoffte, irgendwo zuhause einen dieser Fischkolosse Kolosse in irgendeinem Zoo zu sehen.
Zum Abschluss dieser Seite stelle ich noch einige Fotos ein, die Ihnen den Charakter dieser Landschaft zeigen sollen und die Lebensbedingungen der Menschen im Delta erahnen lassen.
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