"Es ist ein jährliches Ereignis, das dieses Jahr auszufallen droht", antwortete er und es klang, als berge seine Befürchtung ein tieferes Geheimnis. Dann erzählte er mir, was es mit dem Flieder auf sich hatte.
Damals, als wir jung hier einzogen, rief meine Frau ihre Mutter zum Muttertag an, und diese erwähnte am Telefon, wie der berauschende Duft des Flieders einer Wolke gleich über ihrem Garten lag. Meine junge Frau vermisste den Garten, das spürte ich sofort, aber besonders vermisste sie den weißen Flieder mit seinem Wohlgeruch, aus dem auch ihr Brautstrauß sieben Jahre zuvor gebunden war.
Dann hatte ich eine Idee. "Hol die Kinder", rief ich meiner Frau zu, "und kommt mit."
Wir brachen auf und fuhren ein Stück übers Land. Es war ein Tag, wie ihn nur der Mai bereithalten kann: Strahlender Sonnenschein, tiefblauer Himmel, gelb blühender Löwenzahn an den Straßenrändern und überall ungezügeltes Grünen und Wachsen. Dann hielten wir an einem Feldweg und ich erntete ratlose Blicke, als ich alle aufforderte, in das große Weiden- und Brombeerdickicht am Wegrand einzudringen, was bei meiner Frau Protest, aber bei den Kindern Begeisterung auslöste. Ich kannte das Gebüsch und als die Kinder in das abweisende Dickicht eintauchten, folgten wir ihnen. Bald wurde das Buschwerk durchlässiger, wir stolperten über das efeuüberwucherte Fundament einer ehemaligen Scheune und dann, durch die hinter uns liegenden, stachelbewehrten Brombeerranken vor neugierigen Blicken wirksam geschützt, wuchsen dutzendweise Fliederbüsche um einen winzigen Teich, so beladen mit Blüten, dass sich die Zweige unter ihrer Last nach unten bogen.
Freudig stürzte sich meine Frau auf den nächsten Busch und vergrub ihr Gesicht in den Rispen und sog den Duft der Blüten mitsamt den vielen Erinnerungen ein, die er in ihr weckte. Dann wählte sie passende Zweige aus und schnitt sich mit meinem Taschenmesser einen herrlichen Fliederstrauß zusammen. Sie hatte keine Eile dabei und erfreute sich an jeder Blüte.
Wir fuhren zurück und kurz vor unserem Zuhause sollte ich anhalten. Ehe ich Fragen stellen konnte, stieg meine Frau aus und eilte zu einer Frau, die im Rollstuhl auf der Terrasse eines Pflegeheimes mit gesenktem Kopf saß, so, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Ihr legte sie den Flieder in den Schoß, die überrascht den Kopf hob und sie fragend anlächelte.
"Mutti, wer war das", fragten die Kinder, "warum hast du ihr unseren Strauß gegeben?"
"Ich kenne die Frau nicht, antwortete sie. "Aber heute ist Muttertag und vermutlich ist die Frau einsam und freut sich über die Blumen."
Den Kindern reichte die Erklärung. Mir nicht. Am nächsten Tag kaufte ich vier Fliederbüsche für unseren Garten.
Nun duftet unser Garten im Mai genauso, wie der ihres Elternhauses - wenn das Wetter mitspielt. Dann kommen am Muttertag die Kinder und Enkel und schneiden ihre Fliedersträuße aus den Büschen und der Garten wird Mittelpunkt eines bunten Familientreffens.
"Und bei diesem Trubel wird unsere Vergangenheit jedes Jahr erneut lebendig und wir denken dabei auch an jenen Fliederstrauß, der vor vielen Jahren ein Lächeln ins Gesicht einer einsamen, alten Frau im Rollstuhl gezaubert hatte."