Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Zeit für das Wesentliche

Irgendwann während meines Berufslebens wurde mir bewusst, dass es noch mehr Lebensinhalt geben müsse als die Führung eines Geschäftes. Etwas Unbestimmtes, aber Wichtiges versäumte ich. Das spürte ich genau, wusste aber nicht, was dieses Unbestimmte war und mir blieb auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Zu voll war der tägliche Terminkalender. Alles war wichtig - das Wesentliche aber übersah ich.

Dann kam der Tag, als mein Sohn mich drängte, mit ihm eine Radtour zu machen. Wie schon so oft zuvor "hatte ich keine Zeit" und hörte nur mit einem Ohr hin. An jenem Tag aber blieb er hartnäckig und sein Bitten und Drängen drang zu mir durch. "Warum eigentlich nicht?" und noch während ich über die mir selbst gestellte Frage nachdachte, stand meine Antwort schon fest. "Wir machen das." 

Das war ein Wendepunkt. Als er jubelnd in die Küche zu meiner Frau lief, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, sah ich ihm nach und mir wurde bewusst, dass sein Gang in einem Jahr anders sein würde. Dann würde er erwachsener sein und mir wurde mit Erschrecken klar, dass die Chance auf eine gemeinsame Radtour sich vielleicht nie wieder ergeben würde. Dann würde er nicht mehr mit mir - vielleicht nie mehr mit mir - sondern mit Freunden unterwegs sein.

Es wurde eine wundervolle, unvergessliche Reise entlang der Küste der griechischen Peleponnes. Auch die Fahrt mit dem Rad durch Athen, die nicht wundervoll, aber unvergesslich bleiben wird! Das Verkehrschaos muss man überstanden haben und noch heute wundern wir uns, lebend zurück gekommen zu sein. Dann der in blendende Helligkeit getauchte Hafen von Piräus mit seinen Multi Mega Yachten. Alles war neu und fremd und aufregend für uns. Oder die schroffen Gebirgszüge entlang der Küsten, die im Inneren des Landes zum Hochgebirge anstiegen. Ihre Steigungen schienen für mich kein Ende zu nehmen, für meinen Sohn aber waren sie nur sportliche Herausforderung. Manchmal aber ging es von beschaulichen Küstenstädtchen in ungezählten Serpentinen hinauf auf knapp 2000 Meter hohe Bergpässe, die selbst ihm das Letzte an Kraft abverlangten und mich an den Rand der Erschöpfung brachte. Dann ging es in rasender Fahrt hinab ins nächste Tal um dort abgekämpft und zum Umfallen müde ein Hotel zu suchen. Durchschwitzt und Landstreichern ähnlicher aussehend als Radreisenden, gelang das nicht immer. Man wies uns ab und wir  schliefen an irgendeinem menschenleeren Strand im Zelt, an dem uns das Rauschen der Brandung schon beim kläglichen Abendbrot aus der Konservenbüchse die Augen zufallen ließ. Doch der Entdeckerdrang meines Sohnes blieb trotz der Strapazen ungebrochen und in den Ruinen von Sparta oder der Felshalbinsel Monemvassia mit ihren Treppenstraßen, Wohnhöhlen und Eselfuhrwerken konnte er sich austoben auf der vergeblichen Suche nach Gegenständen aus der Antike. Ich glaube, er hatte sein Zuhause fast vergessen...

Zurückgekommen setzte ich mich an den Schreibtisch, stürzte mich aber nicht sofort in die Arbeit und ignorierte die Liste der zu erledigenden Arbeiten. Ich dachte an die Zeit vor der Radtour zurück, als ich das Wesentliche dem Dringenden untergeordnet hatte. Aber auch an das unbeschwerte Schlendern mit meiner Frau durch einen blumenerfüllten Park. Wie lange war das alles her? Als mir die verhängnisvolle Liste auf meinem Schreibtisch vor die Augen kam, erschien vor meinem inneren Auge auch eine andere Liste - die mit den Namen guter Freunde, die ich schon lange nicht mehr angerufen hatte.

Den Raum verließ ich mit geschärftem Blick für die wahren Kostbarkeiten des Lebens und das, worauf es wirklich ankommt. Viel zu lange steckte ich schon so tief im Alltagstrott, dass ich dabei die unschätzbaren Dinge übersehen hatte, die den wesentlichen Teil des Lebens ausmachen. Ich begriff, dass das Wesentliche in Wirklichkeit das Dringendere ist - aber diese Erkenntnis kommt oft zu spät. Vereinsarbeit oder Autowaschen können warten. Ehefrauen, Kinder, Enkel und Freunde nicht. 

 

 
 
 
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