„Wie die Zeit vergeht“, rief mein Freund Otto angeheitert, schwenkte dabei seine altertümliche Taschenuhr an ihrer Kette und zertrümmerte beim Schwenken sein fast gefülltes Weinglas
Erika, seine Frau schimpfte und schüttelte über sein kindisches Benehmen den Kopf. Wir lachten, trösteten sie und später philosophierten wir über unsere verronnene und die gerade verrinnende Zeit. Danach scherzten wir über Ottos biergetränkte Taschenuhr. Noch später hatten die Gäste alle Zeit und Uhren dieser Welt vergessen und spekulierten mit immer rosiger werden Gesichtern nur noch über Ottos Nachbarn, was dieser Spätaufsteher wohl jeden Morgen bis 11 Uhr im Bette triebe anstatt die Zeit für sinnvolle Dinge zu nutzen.
Die Zeit war zuerst da, stellte man an jenem Abend fest. Die Uhren kamen später auf. Der Urmensch hatte Zeit, war sich dessen aber nicht bewusst und vermisste keine Uhr. Das war gut für ihn, denn er wurde meist nur dreißig Jahre alt und eine Uhr hätte ihn wegen der geringen Lebenserwartung nur unnötig aufgeregt. So ging er mit den Vögeln in sein Höhlenbett und war zufrieden.
Dann erfand jemand die Sonnenuhr und die Zufriedenheit war Vergangenheit. Plötzlich wurde man sich der endlichen Lebenszeit sichtbar bewusst. Doch das Ablesen der Sonnenuhr war umständlich und nicht jedem möglich. Und so setzte man alles daran, die „richtige Uhr“ zu erfinden. Man erfand sie und seitdem sind wir noch unzufriedener, weil wir ihr Sklave geworden sind.
Hinter ihrem Zifferblatt versteckt sich, gut getarnt als unverfängliche Minuten- oder Stundenportion, unsere verrinnende Zeit. Damit wir nicht vergessen, diese richtig einzuteilen, umgibt man uns zusätzlich mit Uhren der verschiedensten Art. Seitdem leben wir zwischen unseren Uhren, ob uns das recht ist oder nicht, denn sie sind allgegenwärtig. Sind sie ausnahmsweise mal nicht vorhanden, sind wir noch unzufriedener als mit ihnen. Denn dann wissen wir nicht einmal mehr, wenn wir Hunger zu bekommen haben!
Die Armbanduhr ist fast ein Implantat und gehört ohne Wenn und Aber zum modernen Menschen. Doch sie allein reicht nicht aus, denn auch sie muss ständig auf Genauigkeit kontrolliert werden. Deshalb findet man heutzutage Uhren in der Mikrowelle, im Küchenradio, Telefon, Fotoapparat, an der Küchenwand und im Elektroherd, die alle ihre speziellen Tücken haben. Meine Elektroherduhr ist besonders tückisch, denn sie widersetzt sich meiner Einstellkunst so erfolgreich, das ich nach einem Stromausfall immer meinen Sohn zum Einstellen anrufen muss.
Es gibt noch mehr Zeitverkünder. Auf dem Nachtisch befinden sich zwei, auf dem PC-Bildschirm einer und im Auto sogar drei dieser Teufelsdinger. Meine Diele zierte eine Standuhr, die mir mit ihrem „Tick und Tack“ unerbittlich vormachte, wie mein Leben bei jedem Tick einen Tack kürzer wurde. Ich verbannte sie in den Keller. Das geht bei Kirchturmuhren nicht. Nachts teilen sie - wenn man wach liegt - die Dunkelheit in gleichmäßige Viertelstundenstücke. Das ist zu ertragen. Wohnt man dagegen in einem größeren Ort, kann man beobachten, wie die Zeit merkwürdig gedehnt wird, denn alle Turmuhren schlagen zu verschiedenen Zeiten die gleiche Zeit. Manchmal entsteht daraus - besonders eindrucksvoll um Mitternacht - ein längeres, gewohnheitsbedürftiges Zeitkonzert.
Glücklicherweise brauche ich zum Aufstehen und Schlafengehen keine Uhr. Ich stehe murrend auf, wenn die automatischen Außenrollos jeden Gedanken ans Weiterschlafen vernichten. Und ich gehe ins Bett, wenn ich müde werde, denn ich weiß auch ohne Uhr, wann mir abends die Stunde geschlagen hat.