Als zweifacher Vater und vierfacher Großvater kann ich eine Menge über Küsse schreiben und das, was ich als junger Vater beobachtete, wird heute oder an jedem beliebigen anderen Tag zehntausendfach geschehen: Eine Mutter betritt das Kinderzimmer um den Kleinen Gute Nacht zu sagen.
Ich blieb im Türrahmen stehen, als vor Jahrzehnten meine Frau das Kinderzimmer betrat, in dem gerade meine Sprösslinge ins Bett gefallen waren. Das kleine Mädchen mit ihrer glatzköpfigen Puppe schlief am liebsten mit einer am Fußende zusammen gerollten Decke. Für ihren älteren Bruder hatten Decken andere Bedeutung. Aus ihnen ließen sich am Tage - über Tische und Stühle ausgebreitet - "Indianerhöhlen" bauen und in der Nacht dienten sie ihm als Versteck für eingebildete Geister und Raubritter. Um gegen ihre Angriffe gewappnet zu sein, nahm er jede Nacht sein Holzschwert mit ins Bett.
Meine Frau gab dem Mädchen einen Gute Nacht Kuss, dass am Daumen lutschte und schon am Einschlafen war. Ihr Bruder lag still da und betrachtete schläfrig die Spielzeugsoldaten, die auf dem Nachtisch Wache standen. Dann beugte sich meine Frau zu ihm hinunter, er wurde hellwach und ich musste lachen, als ich sein bestürztes Gesicht sah, das schutzsuchend unter der Decke verschwand und aus der seine dumpf klingende Stimme flehentlich rief: "Nicht küssen!" Mein kleiner Krieger hatte Angst vor ihren Küssen!
Was ist überhaupt ein Kuss? Das lässt sich nur unvollständig beantworten. Manchmal ist er nur ein Spitzen der Lippen, manchmal ein Schmatzer und ein andermal ein flüchtiges Berühren des Mundes. Etwas ganz anderes sind die leidenschaftlichen, langen und innigen Küsse und nochmal anders die kurzen, flüchtigen Küsschen. Es gibt Hand, Begrüßungs- und Abschiedsküsse und jene Küsse, die "Hummeln" im Bauch und "Schmetterlinge" im Herzen auslösen und manchmal auch den Verstand ausschalten. Nicht vergessen werden dürfen die Küsse, welche man den ganzen Abend vorausahnt und solche, die völlig unerwartet kommen. Oder jener Kuss, der um die Welt ging und den man den "Bruderkuss von Honnecker und Breschnew" nannte. Aber hier geht es mir nur um die Sorte Kuss, die so unbewusst gegeben werden wie wir atmen. Den Kuss, den Eltern ihren Kindern geben.
Darüber sprachen meine Frau und ich bei einem Glas Wein vor dem Kaminfeuer, als wir die Kinderzimmertür geschlossen hatten. "Du glaubst nicht, wie sich alles geändert hat", sagte meine Frau. Früher hatten meine Küsse bei ihm magische Wirkung. Sie konnten seine aufgeschlagenen Knie heilen und sein verletztes Ego wieder aufrichten. Sogar seine kalten Finger und Füße konnten sie wärmen und gedrückte Lebensgeister wieder erwecken. Seit kurzem aber werden meine Küsse von ihm gemieden wie Kochfisch oder Kohlsuppe. Jetzt rennt er um meine ausgestreckten Arme herum, als hätte ich die Pest", klagte sie weiter, "und wenn ich ihn doch mal erwische, stöhnt er laut auf und wischt sich die Stelle heftig ab."
Ich wollte meine Frau gerade an ihre wegen deren Küsserei ungeliebte Tante Minna erinnern, da fuhr sie fort: "Als er neulich aus der Schule kam und wieder im großen Bogen um mich herum lief, fragte ich ihn, warum er eigentlich Küsse hasse. "Weil sie ekelhaft sind," rief er genervt. "Und warum sind sie ekelhaft?" "Weil sie nass und kalt sind!" Da kam bei mir die Erinnerung an Tante Minna zurück, die zum Abschied immer so sabberig und nass küsste wie ein Hund und ich nahm mir vor, künftig zurückhaltender zu sein.
"Also darf ich dich nie mehr küssen?" Die Antwort war ehrlich und ungeschminkt: "Nur dann, wenn ich irgendwo blute."