Als ich an die Zimmertür meines Enkels klopfte, rief er von drinnen: "Komm rein Opa!" Und als ich ihn fragte, woran er erkenne, dass ich vor der Tür stehe, antwortete er: "An deinem polternden Gang!" Dann beschwichtigte er: "Ich erkenne jeden aus der Familie am Gang. Jeder läuft anders, macht dabei andere Geräusche und alle haben ihren unverwechselbaren Rhythmus. Vor allem aber poltert jeder - du immer besonders laut, wenn du die Treppe raufkommst."
Wir lachten beide, aber er hatte recht. Ich höre zum Beispiel am Motorgeräusch, dass es mein Sohn ist, wenn er mit seinem Fahrzeug in meine Straße einbiegt. Ich höre auch, WIE er anhält und höre an der Dynamik, mit der er den Riegel der Gartenpforte aufschiebt, ob er's eilig hat oder nicht.
Mein Freund Otto sagte mir nichts neues, dass alles was sich bewegt ein Geräusch verursacht und ich hätte das auch nicht erwähnt, wenn er das Hören nicht mit einer vierten Dimension verglichen hätte. "Hören sagt uns, was irgendwo geschieht. Hören erschließt uns sogar Feinheiten und verwickelte Sachverhalte, die dem Gesichtssinn allein verborgen bleiben würden. Das Gehör ist gewissermaßen eine Fortsetzung des Tastens, eine spezielle Art Tasten auf Distanz", ergänzte Otto noch, ehe sich unser gemeinsamer Freund aus der "Medizinbranche" dazu äußerte:
"Die Welt ist über den von uns hörbaren Teil hinaus erfüllt von Geräuschen, die wir glücklicherweise nicht wahrnehmen. Stellt euch mal vor, ihr könntet Töne von weniger als 16 Schwingungen pro Sekunde hören - ihr würdet verrückt. Das Knarren und Rumpeln Eurer Muskeln, Eingeweide und Pulsschläge würde alles andere übertönen. Das durch die Adern strömende Blut würde pulsierend rauschen wie belaubte Bäume im Sturm und jeder Schritt, den ihr macht, klänge wie eine Explosion. Glücklicherweise hat die Natur vorgesorgt und uns alle für solch tiefen Töne taub gemacht. Und auch das, was oberhalb unserer Hörgrenze liegt, würde uns mächtig zusetzen und den Schlaf stören. Dabei meine ich nicht nur den Ultraschall der Fledermäuse, sondern auch die vielfältigen Anwendungen in Medizin und Technik."
"Aber auch das", fuhr er fort, "was sonst noch unser Ohr erreicht, hat's in sich. Genau genommen werden wir mit akustischen Eindrücken derart bombardiert, dass wir ständig unbewusst "abschalten" müssen, um das Wesentliche herauszufiltern. So erklärt sich die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, im Lärmwirrwar einer vollbesetzten Kneipe ein bestimmtes Geräusch oder eine Stimme "herauszuhören" und zu orten." Wie das wirklich funktioniert, ist immer noch eins der vielen Wunder der Natur. Dass das Hören aber auch eine "Wachhundfunktion" hat, erkennt jeder, der beim Namen gerufen wird und jede Mutter, die auch im tiefsten Schlaf das Wimmern ihres Kindes hört."
Hoffentlich verkümmert unser Gehör nicht allmählich in einer Welt, in der "täglich mehr los ist", die immer lauter wird. Denn weil wir notgedrungen immer mehr Geräusche unserer Umgebung ignorieren müssen, entgeht uns auch viel von dem, was uns Freude macht. Das beruhigende Knacken von Holzscheiten im Kamin und das scharrende Wispern eines Besens zum Beispiel. Oder das leise Quietschen einer Schublade und das einschläfernde, gleichmäßige Trommeln eines Landregens aufs Terrassendach. Alles Geräusche, die uns ein Gefühl des Behagens und Vertrautseins vermitteln. In der Geborgenheit des eigenen Hauses erzeugt jeder Stuhl sein ihm eigenes Knarren und jedes Fenster quietscht auf andere Weise. Allein die Küche hält viele angenehme Laute bereit. Dazu gehört auch das schlecht beschreibbare Geräusch "schmurgelnder" Bratkartoffeln und das nur schwach hörbare Brutzeln einer Weihnachtsgans im Backofen. Doch wenn uns der Duft solcher Köstlichkeiten in die Nase steigt, werden wir für alle störenden Nebengeräusche sowieso taub. Dann zählt nur noch das Genießen des Festtagsmenues und das leise Klingen der Rotweingläser beim Anstoßen stimmt uns ein auf das größte unserer Feste: Weihnachten.