Die alten Mauern, Höhlen und unterirdischen Gänge der Calenburg mit ihrem vielleicht acht Meter Burgwall war für uns Kinder nicht nur Abenteuerspielplatz, sondern auch idealer Ort zum Rodeln. In nicht enden wollender Folge ging es rasend vom Scheitel des Burgwalls in die Tiefe des trocken gefallenen Burggrabens und mühsam wieder hinauf. Gesicht und Ohren glühten und eines Spätnachmittags übermannte mich die Müdigkeit. Ich schlief, an einen Baum gelehnt, auf meinem Schlitten ein. Als ich erwachte, war ich allein. Der Abend eroberte mit langen Schatten jeden Winkel um mich herum und nur die Schornsteine einiger Häuser schimmerten rötlich im Widerschein der untergehenden Sonne. Und noch während ich die gut drei Kilometer nach Hause trottete, überzog sich der Himmel mit dem tiefen, durchschimmernden Blau der Fast-schon-Nacht und ein erster Stern erschien. Er gab mir Trost in meiner Sorge um das "Donnerwetter", welches mich zuhause wegen meiner späten Heimkehr erwartete. Trotzdem: Die Schelte würde ein Nichts sein gegen das großartige Abenteuer, zum ersten Male allein bei Nacht durch schweigende, menschenleere Felder und die verschneite Eschen Allee zurück nach Hause gewandert zu sein. Seitdem hält mich die Abenddämmerung in ihrem Bann.
Jahrzehnte später erreichte ich an einem späten Winternachmittag nach einem langen Spaziergang die ersten Häuser meines Heimatdorfes. Plötzlich flammten im Halbdunkel die Straßenlampen auf. Von einem Augenblick zum anderen säumen sie wie Lichtgestalten im wirbelnden Schneefall die Straße und gaben mir für den Rest des Weges das Gefühl, geschützt und geborgen zu sein. Dämmerung ist Heimkehrzeit und die Zeit, in der man sich auf das Abendessen freut.
So schön es ist, am Ende des Tages heimzukehren - aufzubrechen ist nicht weniger reizvoll. Wenn auch jeder Aufbruch etwas Belebendes hat, ist kein Aufbruch so aufregend wie der in der "zwielichtigen Stunde" zwischen Tag und Nacht. Dann scheint die Luft nach Abenteuer zu riechen und vor Spannung zu knistern. In dieser Zeit des schwindenden Lichtes im Sommer aufzubrechen und dem leisen Konzert der Grillen zu lauschen, ist wie ein unerwartetes Geschenk. Ein Lichtpünktchen taucht auf, dann noch eins. Und dann glimmt und funkelt es überall, während im Westen die schmale Sichel des Mondes die heran flutende Nacht in Schach hält.
An solchen Abenden wandern Liebespaare Hand in Hand über den Feldweg an den Fluss. Manche machen an der hölzernen Brücke Rast, ohne sich um die Kinder zu kümmern, die am Ufer des nahen Kiesteiches Glühwürmchen fangen. "Einen gefangen?" "Ich hab schon mehr als du!" Die Pärchen aber lehnen sich in stiller Eintracht eng aneinander gedrückt an das Brückengeländer und werfen Holzstückchen ins schäumende Wasser. Und erst, wenn die Dunkelheit die Brücke verschluckt, kehren sie um und verschmelzen mit den kaum noch wahrnehmbaren Silhouetten der Büsche am jenseitigen Ufer.
Unvergessen bleiben mir die Düfte, durch die sich die Jahreszeiten beim Dunkelwerden unterscheiden. Die vom süßlichen Duft blühender Rapsfelder erfüllte Luft des April ist geblieben. Der Duft der Apfelblüten im Mai auch, aber der herbe Geruch der Kartoffelfeuer im Herbst ist dem Fortschritt der Landwirtschaft zum Opfer gefallen. Geblieben ist das unbestimmte Aroma der Winterdämmerung dass seit jeher vom Lebkuchen Geruch der Zuckerfabrik durchsetzt ist - wenn der Himmel in eisigem Glanz erstrahlt, während ich den Bürgersteig von seiner dünnen Schneedecke befreie.
Ich weiß nicht, warum diese Tageszeit so magisch auf mich wirkt. Vielleicht begegnet mir in der Zeit des abendlichen Zwielichtes ein Sinn, den ich noch nicht verstanden habe. Aber immer sind es Momente, die sich selbst - auch ohne sie begreifen zu können - über das Einerlei des Alltags hinausheben.