Es entspricht der menschlichen Natur, Dinge auf die lange Bank zu schieben. Trotz ihres schlechten Rufes hat diese Eigenschaft aber große Vorteile. Niemand verschiebt, um jemanden zu schaden. Man verschiebt, um sich - zumindest für eine Zeit lang - vor etwas zu drücken. Vor etwas, was man ungern tut oder was anstrengend ist. Rechnungen zum Beispiel zahlt man ungern. Das weiß jeder Lieferant und lockt mit Skonto, denn nichts ist schöner, als jemandem was abzuziehen zu dürfen. Schreibkram dagegen ist nur anstrengend und eine Belohnung selten.
Ist Anstrengung zu allem Übel auch noch mit Überlegung und Recherche verbunden, wird der Wunsch zum Verschieben übergroß - aber das wirkt sich bei mir positiv aus. In solchen Fällen erledige ich was Anspruchsloses, wohl wissend, dass das "Verschobene" mich in kurzer Zeit wieder einholen wird. Schon oft habe ich meinen Rasen gemäht, obwohl er noch gar nicht dran war. So wie heute. Beim Mähen ist keine große Denkleistung nötig, während man wie ein Göpelpferd stumpf und dumpf und vielleicht sogar meditierend im Kreis herum läuft und nur gelegentlich reger wird, um den Grasfangkorb zu leeren. So was macht den Kopf frei und schon mancher von mir auf die lange Bank geschobene Artikel ist beim Rasenmähen entstanden - so wie dieser. Wollte ich aber ein großes Buch statt eines kleinen Artikels schreiben, brauchte ich auch einen größeren Rasen, um länger nachdenken zu können. Auch ein Diktiergerät, um den Anfang nicht zu vergessen. Und ein größeres Grundstück, einen größeren Rasenmäher und mehr Wasser zum Bewässern, damit der Rasen überhaupt wachsen kann. Ich glaube, ich schreibe kein Buch...
Aber ich schweife ab. Viele Menschen wären brotlos, wenn sie nicht das Talent besäßen, Sachen vor sich herzuschieben. Politiker zum Beispiel. Oder Schreiber. Oder Hausfrauen. Bei denen, welche die freigewordene Zeit sinnvoll nutzen, wirkt sich das positiv aus. Und sei es auch nur das alte, schon lange vor sich Hergeschobene zu erledigen. An dieser Hürde scheitern viele Politiker und alle Gernegroße und Sprücheklopfer. Die beschränken sich auf's unproduktive Verschieben nach dem Grundsatz: "Nach mir die Sintflut." Nicht aber normale Hausfrauen und ihre Männer. Die stürzen sich - ihrer Natur gehorchend - freiwillig ins produktive Verschieben und stürzen sich in den Frühjahrsputz oder sonstige Renovierungsarbeiten. Nicht, weil es ihnen Spaß macht. Sondern weil sie so die Bearbeitung der Steuererklärung bis zur letzten Minute hinauszögern können!
Sogar die gegenseitigen Besuche mit meinem Freund Otto verschieben wir manchmal. Darüber beschwerte er sich neulich und meinte, als wir uns danach trafen, dass nur durch's Aufschieben anderer Dinge ganze Häuser staubgesaugt, Autos in Schuss gebracht, Dachrinnen gereinigt und abgesackte Terrassen wieder begradigt würden.
"Aber das Schönste ist", erzählte er weiter, "dass ich, seitdem meine Erika immer öfter immer mehr verschiebt, ich immer öfter auch immer besseres Essen bekomme. Seitdem hat sie mehr Zeit und brutzelt Gerichte, die sonst zu zeitraubend wären. Ich wäre ja verrückt, ihr das Aufschieben vorzuwerfen!"
"Aufschieben hat noch mehr Vorteile", fügte er hinzu. "Es wirkt kontaktfördernd. Eltern, die ihre Arbeit auf später verschieben, haben mehr Zeit für die Familie. Es wird mehr miteinander gesprochen und manchmal" - er lachte - "erledigt sich manches Verschobene im Laufe der Zeit von selbst."
Nach Hause zurückgekehrt überlegte ich, was es sich lohne, verschieben zu können in der Hoffnung, dass es sich später von selbst erledigt. Es kam so viel zusammen, dass ich die Entscheidung, entscheiden zu müssen, auf nächsten Monat verschob. Das Gespräch mit Otto aber öffnete mir die Augen und schlug eine ganz neue Seite meiner Erkenntnisse auf:
Mit "produktivem Aufschieben" wird im Ergebnis viel mehr erledigt als ohne!