November – Monat der Besinnung
„Das ist wieder ein düsterer Monat“, spricht mich ein alter Bekannter an und ich unterbreche meinen Spaziergang. Unlustig harkt er einen letzten Rest feuchtes, braunes Laub an seinem Gartenzaun zusammen und wirft es auf einen Haufen. Sein Blick verrät Traurigkeit und er hat allen Grund dazu. Er hat seine Frau verloren und dieser Monat mit seinen kurzen, grauen Tagen und langen Nächten tut alles, um seine Trauer zu vertiefen. Doch sein Abmühen mit dem nassen Laub ist nicht nur ungeliebte Arbeit, denke ich. Es ist auch Ablenkung von seinen Gedanken an das Unumkehrbare, das er zu bewältigen versucht.
Der Wind zerrt hartnäckig an den letzten gelben Ahornblättern, als ich weiter gehe und die Straße zum Schlosspark einschlage. Der Wind zerrt auch an mir und sein kalter, nebliger Atem lässt mich unter meinem dünnen Mantel erschauern. Novemberwetter.
Unbewusst beschleunige ich meine Schritte und bleibe hinter der Mauer am Eingang zum Schlosspark stehen. Stille herrscht. Novemberstille. Schwebezustand zwischen dem späten Leben des Herbstes und der Totenstarre des kommenden Winters. Stille, die nur vom Rascheln trockenen Laubes und vom wispernden Wind im Schutz der Mauer durchbrochen wird.
Stille, die in unserer täglichen Unrast helfen kann, für kurze Zeit zur Besinnung zu kommen, innere Einkehr zu halten und zurück zu blicken. Ich blicke an der Mauer entlang, betrachte die uralten, schwarzbraunen, flechten besetzten Ziegel, in deren Mauerfugen sich genügsam, aber mit unbeugsamer Vitalität, neues Leben angesiedelt hat. Dann schweift mein Blick über das Schloss mit seinem Zwiebelturm und Wassergraben, durch den Park mit seinen uralten Platanen und Buchen und über den fast kreisrunden Teich, den wir "Petersilie" nannten. Der mir über Jahrzehnte hinweg immer noch vertraute, rauhe Chor der Frösche ist verstummt und an seinem Ufer wiegt sich sacht im Wind nur noch totes, lohfarbenes Schilf.
Wieder zieht die Efeu bewachsene Mauer meinen Blick auf sich fest. Bilder unbeschwerter Kindheit entstehen hinter meinem inneren Auge. Hier, hinter diesem langgestreckten, schief stehenden Ziegelbauwerk und den dichten Büschen, erlebte ich meine Kindheit. Hier bauten wir mit Gleichaltrigen Hütten. Im angrenzenden Park wimmelte es von "Räubern" und anderen bedrohlichen Gestalten und immer waren wir auf der Flucht vor unseren eingebildeten Feinden, die immer dann real wurden, wenn wir unerlaubt im Schloßgraben angelten. Den Gärtner des Schlosses, dem man wahre Schauergeschichten nachsagte, fürchteten wir am meisten. Falls man ihm unglücklicherweise in die Finger fallen sollte, sorgten wir vor. Messer und Schwerter aus Holz, in langen Stunden mühsam geschnitzt, waren wirkungsvolle "Waffen." Fantastische Zeit. Wunderbare Kindheit. Zeit des Tatendranges, der Unbeschwertheit aber auch der Unsicherheit.
Wo sind sie geblieben, die Spielkameraden von damals? So, wie der Wind die Blätter wahllos verweht, als ich mit dem Fuß beim Weitergehen zum Friedhof einen Haufen Laub in die Luft schleudere, wurden auch meine Freunde verstreut. Wenige habe ich nach Jahrzehnten wieder gesehen. Die Meisten nie mehr. Vergessen sind sie wie die, die hier begraben liegen - denke ich, als ich die Friedhofs Tür öffne. Vergessen - und doch denke ich an sie...
Dann fällt mein Blick auf meinen Laub fegenden Bekannten, der jetzt tief versunken in stiller Trauer vor dem Grab seiner Frau steht und ich blicke weiter über die Grabsteine die durch ihre Inschriften die Botschaft der Toten zu verkünden scheinen: "Vergesst uns nicht!"