"Fest gemauert in der Erden, steht die Form - aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden - frisch Gesellen seid zur Hand..."
Als Kind bedeutete mir "Schillers Klassiker" nur ödes Auswendiglernen. Erst später erkannte ich, dass wir in unserem Kulturkreis viel öfter als uns bewusst ist, mit Glocken zu tun haben.
Kirchenglocken erklingen überall in christlich geprägten Gesellschaften. Sie begleiten uns von der Wiege bis zum Grab. Mit dumpfem Schlag verkünden sie, dass jemandem die letzte Stunde geschlagen hat oder mit hellem Ton, ob geheiratet wird. Sonntags laden Glocken zum Gottesdienst ein und fast immer informiert uns eine kleine Schwester von ihnen mit monotonem Klang über die Tageszeit. Ist sie - wie südlich des "Weißwurstäquators" - zu emsig und schlägt viertelstündlich, sorgt sie manchmal für Schlaflosigkeit und Streit untereinander.
Sogar als billiger, blechern klingender Gebrauchsgegenstand hängen sie Kühen um den Hals und Touristen anlockendes Glockenspiel verziert die Frontseite vieler Rathäuser. Bei mir steht sie als 10 cm hohe, feine, dünnwandige Porzellanglocke in der Küche, mit deren zarten Klang meine Frau mich zum Kaffee ruft!
Die Geburt einer großen Bronzeglocke ist für ihren Schöpfer ein großer Augenblick. Ich hatte das Glück, den Guss einer mittelgroßen Kirchenglocke aus sicherer Entfernung miterleben zu dürfen und es war ein aufregendes Erlebnis auch für mich. Einige Wochen später, als ich das fertige Kunstwerk besichtigte und als "Objekt" bezeichnete, legte der Glockengießer seine Hand auf das kühle Metall und streichelte den breiten Ring am unteren Ende.
"Sie ist kein Objekt", antwortete er leise. "Sehen sie, sie hat einen Kopf, eine Taille und einen Mund, aus dem sie an ihrem zugedachten Platz bald mächtig "tönen" wird. Für mich ist sie ein lebendes Wesen."
Diese "lebenden Wesen" gibt es in allen Größen. Bis vor kurzem war die 24 Tonnen schwere Petersglocke im Kölner Dom die schwerste schwingende Glocke der Welt. Sie wird an Vorabenden hoher Festtage geläutet. Seit 2016 aber ist es eine Glocke von gut 25 Tonnen in Rumänien.
Den Anfang der Glockentradition soll der Bischof von Nola, St. Paulinus, gemacht haben, indem er die Glocke um 400 nach Chr. in den christlichen Gottesdienst eingeführt hatte und sich damit eine Menge Kosten schuf! Eine Glocke am Boden, die niemand hört, ist nutzlos. Deshalb mussten hohe Türme gebaut werden, aus denen sich ihr Klang in alle Richtungen weit ausbreiten konnte. Der erste Turm - um 750 n. Chr. über der Peterskirche in Rom errichtet - bestand aus silberüberzogenem Holz. Sie kurbelte den Wettbewerb mächtig an. In ganz Europa schossen danach Kirchtürme aus Stein wie Pilze aus der Erde. Auch die Türme des Kölner Doms verdanken ihre Existenz einer vergleichsweise bescheidenen Glocke.
Eine besondere Glocke habe ich noch nicht erwähnt. Sie steht in meiner Gunst ganz oben und verkörpert das schon beschriebene "lebende Wesen." Ihr Ton, der aus der Dunkelheit des Heiligen Abends über Häuser und Gärten streicht, klingt dann verzauberter, feierlicher und gleichzeitig fröhlicher. Selbst dann - oder gerade dann - wenn ihr Klang vom Sturm zerrissen, nur noch als dünner, filigran verdrehter, schwankender Hauch das Ohr erreicht, sind unsere Erwartungen geschärft - Kindern gleich - schon auf die Christvesper oder das Krippenspiel gerichtet.
Vielleicht ist sogar in solch friedlicher, uns alle berührenden Stimmung das ewig junge Weihnachtslied entstanden: "Süßer die Glocken NIE klingen."