Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

November - Monat der Besinnung

November ist der Monat, in dem sich alles in einer Art Schwebezustand befindet. Die Schönheiten  des Altweibersommers sind endgültig dahin. Nur noch einzelne vergilbte Blätter an der gegenüber stehenden Ulme erinnern an die farbenfrohe Jahreszeit. Aber an ihnen zerrt der Wind und es ist nur eine Frage der Zeit, wenn auch sie zu Boden fallen. Dann werden Lebendiges und Totes ununterscheidbar nebeneinander stehen - graue Silhouetten vor grauem Himmel. Auf den Winter, der die Landschaft wieder heller werden lässt, wenn er seine weißen Laken ausschüttelt, müssen wir noch etwas warten.

November ist nicht nur Monat der Besinnung. Er kann auch ein Monat von Melancholie sein, die bei vielen aufkommt und besonders bei denjenigen, die einen lieben Menschen verloren haben. Den Ruhenden gelten in diesen Tagen vor und am Totensonntag die Gedanken und Gefühle der Hinterbliebenen in besonderem Maße. Gut, dass viele dieser Gedanken und drückenden Stimmungen weniger werden, wenn die schöne Zeit des Advent beginnt. Manche Gedanken aber bleiben und wollen im inneren Dialog geklärt werden, weil wir nicht vor dem fliehen können, was jeden von uns betreffen wird.

Als ich die Ruhestätte meiner Frau erreichte, um weiß blühende Christrosen für die kalte Jahreszeit zu pflanzen, war ich nicht allein. Überall beschäftigten sich Menschen still und zurückhaltend damit, die Gräber ihrer Verstorbenen für Totensonntag zu schmücken. "Wenn der November als Monat der Besinnung gilt, sind Friedhöfe zusätzlich Orte der Erinnerungen", ging mir beim Pflanzen durch den Kopf. Als mich nach längerer Zeit mein schmerzender Rücken zum Aufrichten zwang, bemerkte ich, dass einige der weiter entfernten Grabsteine verschwunden waren und mir wurde ganz plötzlich bewusst, dass selbst die letzte Ruhestätte eines Menschen nur einen winzigen Zeitabschnitt über das Leben hinaus beanspruchen darf. Dann kommt die zeitlose Unendlichkeit für jeden und nichts mehr erinnert an ihn. 

Und beim Schauen über den Friedhof formte sich allmählich der Gedanke, dass die Grabsteine der Toten mehr sind als nur Zeichen einer Ruhestätte. Sie sind auch stumme Wegweiser für unsere eigene Zukunft. Wegweiser, die uns Lebende mahnen, die verbleibende Zeit so nutzbringend wie nur möglich zu verwenden, bevor wir selbst den uns vorbestimmten Weg gehen.

Als ich mich nach stillem Gedenken an der Ruhestätte meiner Frau auf den Weg nach Hause begab, machte ich einen kleinen Umweg zu der Stelle des Friedhofes, an der meine Großeltern begraben liegen. Nichts mehr erinnert an sie. Längst steht dort ein anderes Denkmal, aber trotzdem sind sie für mich nicht vergessen und dabei erwachen manchmal ganz merkwürdige Erinnerungen. Mein Großvater war einer der wenigen wirklich Weisen, denen ich im bisherigen Leben begegnen durfte. Er verstand es, komplizierte Dinge einfach zu erklären und sein Wissen erschien mir als jungem Mann riesengroß. Und mir fiel auf, dass er nicht nur auf ordentliche Kleidung Wert legte - keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit direkt nach dem Krieg - sondern mehr noch auf immer blank geputzte Schuhe.

Blank geputzte Schuhe! Selten in unserer Zeit...Ich habe mir das gemerkt und mache es ihm bis heute nach. Wenn ich ihm auch viel Wichtigeres zu verdanken habe als Schuhwerkspflege: Das unterschätzte "Ritual des Schuheputzens" gab er mir zusätzlich mit auf den Lebensweg. Und als ich das quietschende Friedhofstor hinter mir schloss, huschte mir beim Gedanken daran ein Lächeln übers Gesicht und vertrieb die aufkommende Melancholie.

 
 
 
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