Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Herbst im Leinetal

Die späte Zeit des Jahres beginnt. Süßlicher Geruch der Zuckerfabrik erfüllt die Luft und erinnert daran, dass Weihnachten nicht mehr fern ist. Nun zählt für mich jeder Tag doppelt, um noch fehlende, farbenfrohe Fotos für mein Vortrags Projekt "Die Leine von der Quelle bis zur Mündung" zu machen. Den Oberlauf habe ich "im Kasten", den Unterlauf nur unvollständig. Dann mag der Winter kommen und die Hügel des Leinetals mit weißen Laken zudecken.

Als ich am Morgen die milde Herbstsonne spüre, die vielleicht den letzten Altweibertag dieses Jahres ankündigt, überlege ich nicht lange und machte mich auf den Weg zur Leinemündung. Ich war schon dort, mehrfach, zuletzt im Frühjahr, aber besonders der Herbst verwandelt jede gewohnte Landschaft besonders intensiv und schafft eine besondere Stimmung. 

Die möchte ich einfangen. Selbst das gewohnte Bild der Marienburg mit ihren Zinnen und Türmen hatte sich fast über Nacht verändert, als ich ihr zu Füßen das blaue Band der Leine erblicke. Wie von Scheinwerfern angestrahlt erheben sich darüber die Mauern der Burg im Licht der niedrig stehenden Sonne aus dem bunten Blätterwald. Sogar der meist grauen Silhouette der Zuckerfabrik kann ich an diesem sonnigen Morgen Schönheit abgewinnen. 

25 km weiter begegne ich dem Fluss im hannoverschen Stadtteil Linden erneut, um seine Vereinigung mit der Ihme unter dem zitronengelben Laub der Ahorn- und knallroten Essigbäume nahe der Herrenhäuser Gärten zu fotografieren. Herangereift nun zur Landeswasserstraße, befuhren einige Zeit kleinere Schiffe die Leine bis hinunter zur Weser, nach Bremen oder Celle. Das ist Geschichte. Nur die stillgelegte, idyllisch von Ackerwinde zugewucherte Schleuse in Neustadt erinnert an jene Zeiten regen Handelsverkehrs. Mächtige Löwenskulpturen - das Neustädter Wappentier - empfangen den, der auf die Straßenbrücke oberhalb der Schleuse klettert. Dazu passt die beeindruckende Kulisse des Schlosses Landestrost, dessen Fassade sich teilweise hinter flammendem, wilden, roten Wein verbirgt und neben jeder Menge Kultur auch eine Sektkellerei beherbergt. Die besuche ich - und erst, als ich meine Auswahl getroffen habe, fahre ich weiter. Genuss, Kunst, Kultur und Geschichte begleiteten den Fluss auf seinem langen Weg von der Quelle bis hier her. 

Das bleibt auch so die letzten 40 Kilometer bis zur Mündung. Doch der Charakter des Flusses ändert sich - wieder einmal. Die Leine wird zum behäbigen Wiesenfluss und die wenigen Orte an ihren Ufern werden "heidetypisch." Schwarmstedt zum Beispiel. Die Bauernhöfe sind dort anders als anderswo. Braunes Fachwerk mit reich verzierten, geschnitzten und ausgemalten Segenswünschen über den scheunenartigen, oft grün gestrichenen Eingängen sind die Regel. Solche Schnitzereien findet man auch im oberen Leinetal, aber nie an Häusern, die sich wie schutzsuchend im Halbdunkel unter die sie überragenden Eichenbäume ducken. Besinnlich anmutende Ortschaften sind es, die mich melancholisch stimmen. und dazu passt, dass sich im Herbst unter dem braungelben Blätterdach der Höfe ein leichter Geruch von Komposthaufen und spätem Dalien- und Winterasternduft hält.

Die letzten Kilometer, vorbei am Schloss des Fürsten zu Wittgenstein, glaube ich nach Holland versetzt worden zu sein, als eine schon im 12. Jahrhundert erwähnte Windmühle am Leineufer auftaucht. Danach - man mag es kaum glauben - mündet die große Leine in die kleinere Aller! Eine Schmach für den fast 300 Kilometer langen Fluss, degradiert zum Nebenfluss, nur weil Geographen das so wollen! Na ja, nicht ganz. Es hängt mit der Klassifizierung der Gewässer zusammen und nur deshalb zog die Leine bei ihrer Gewässer Einstufung den Kürzeren. Doch sie ist hartnäckig und schickt immer noch einen Teil ihres Wassers als "Alte Leine" in die Gräben des Wasserschlosses und Kunstauktionshauses Ahlden. Das Schloss, welches durch die lebenslange Verbannung von Prinzessin Sophie Dorothea von Braunschweig Ende des 17. Jahrhunderts durch Theodor Fontane sogar Eingang in die Weltliteratur fand.

Zurück gekehrt, entkorke eine Flasche aus der Sektkellerei Neustadt. Beim Rückblick auf den Tag und beim Nachdenken zwischen den vielen kleinen, anregenden Schlucken prickelnden Sektes keimt im Kopf schon der Plan für eine andere, für eine neue Reise an einen Fluss, der in Frankreich "Fluss der Könige" genannt wird - die Loire - und der genau so klein beginnt wie unser thüringisch - niedersächsisches "Paradies vor der Haustür: Die Leine."

 
 
 
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