Als 11- jähriger Junge wünschte ich mir nichts mehr als Geld, ein Fahrrad und ein Taschenmesser. Geld zu bekommen war aussichtslos. Alle, die ich kannte, hatten keins. Ein gebrauchtes Fahrrad bekam ich später - ein Damenfahrrad - und das in einer Lebensphase, in der ich alles, was mit Mädchen zu tun hatte, verabscheute. Deshalb nutzte ich es nicht. Noch später bekam ich zum Fahrrad sogar ein Mädchen - aber ein chromglänzendes Taschenmesser bekam ich nie.
Deshalb glaubte ich, was für mich als Jungen so wichtig war, wäre das auch für meinen Enkel, als sein 13 jähriger Geburtstag nahte. Ich kaufte ihm ein Taschenmesser. Genauer gesagt, die edle Ausführung. Ein Schweizer Messer. Ich hatte mich nicht erkundigt, ob er schon eins hatte oder überhaupt eins haben wollte. Ich dachte nur einfach, ein Taschenmesser sei genau das Richtige für ihn.
"Was ist denn in dich gefahren, Opa?" fragte er, als ich es ihm überreichte. "Hältst du mich für einen angehenden Kriminellen?"
"Natürlich nicht, Sven. Ich meinte nur, so was brauchst du unbedingt!" wehrte ich beleidigt ab.
"Ich mache nur Spaß", beschwichtigte er als er meine Miene sah. Es ist ja auch kein Springstilett, wie es die Messerstecher haben. Aber ehrlich, was soll ich mit einem Taschenmesser? Meine Freunde lachen mich ja aus!"
"Na ja", antwortete ich nicht sehr überzeugend, "du kannst zu Beispiel damit schnitzen. Hast du noch nie Lust gehabt, dir dies oder jenes selber zu schnitzen? Ein Boot zum Beispiel oder einen Wanderstock?" Er grinste nachsichtig. "Wenn man so was haben will, bestellt man's im Internet" - und hielt mir sein Smartphone vor die Nase - "wenn man so was überhaupt haben will. Oder man besorgt sich's in den Läden kleiner Dörfer. Dort, wo kaum Licht brennt und wo es noch die Taschenkalender der letzten 15 Jahre zu kaufen gibt. Und wandern tu ich sowieso nicht, höchstens joggen. Jedenfalls brauche ich keinen Wanderstock. Und die Säge am Messer auch nicht."
Ich schluckte und begriff langsam, dass ich für ihn aus der Zeit gefallen war. "Was ist das hier?" frage er. "Das ist ein Korkenzieher," erklärte ich. "Damit kann man Korken heraus ziehen."
"Opa", sagte er, "du solltest doch wissen, dass Korken heutzutage durch Schraubverschlüsse ersetzt werden. Ressourcen- Schonung nennt man das."
"Tut mir leid Sven", sagte ich. "Als ich so alt war wie du, war es einer meiner sehnlichsten Wünsche, ein Taschenmesser zu besitzen. Mit so einem Messer wie dem da" - ich zeigte auf sein chromglitzerndes Schweizermesser - "hätte ich mir alles schnitzen können, was ich brauchte. Hätte Fische ausnehmen oder Kaninchen das Fell über die Ohren ziehen können. Mit etwas Glück wäre ich in unserer Straße vielleicht sogar Meister im Messerwerfen geworden. Nur deshalb dachte ich, jeder Junge würde gern ein Taschenmesser besitzen."
"Ich verstehe Opa", antwortete er nachsichtig. "Papa drückte sich so ähnlich aus - nur moderner, verstehst du, aber vom Sinn her gleich." Dabei zog er eine mit Gerümpel gefüllte Schublade auf - und wies auf ein Messer, was dem meinem glich.
"Ich verstehe", wiederholte er. "Du erfüllst dir durch mich deinen Kindheitswunsch. Schon deshalb werde ich beide Messer in Ehren halten" - und auch mein Messer verschwand in der mit Plunder gefüllten Schublade.
Ich wünschte, ich wäre in dem Augenblick dreizehn gewesen. Da hätte ich dem Bürschchen die Weisheit mit Fäusten ausgetrieben. Dann erkannte ich, dass ich wirklich aus der Zeit gefallen war. "Genauso wenig wie in unserer modernen Welt Taschenmesser gebraucht werden, braucht man heutzutage Fäuste! Dafür wird gemobbt.
Gut, dass ich aus der Zeit gefallen bin."