Wolfgang Nieschalk
        "Wer handelt, kann Fehler machen. Wer nicht handelt, hat bereits einen Fehler gemacht."

Ein Jahr - kurz wie ein Tag

"Mein bisheriges Leben war reich und erfüllt. Ich habe es in jedem Augenblick geliebt. Aber wenn ich  die vergangene Zeit noch einmal erleben dürfte, würde ich sie mehr genießen. Beispielsweise die Herrlichkeit eines Sonnenaufgangs oder das Aufbrechen einer Apfelblüte, den Duft des Morgenkaffees oder den beglückten und zugleich erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht eines meiner Enkelkinder, als sie zum ersten Mal eine Katze streichelten. Und um noch mehr als bisher der heitere und gelassene Mittelpunkt unseres Heims sein zu können, würde ich viele unnütze Verpflichtungen reduzieren. Ich weiß, ich hätte früher damit anfangen sollen. Aber das Geschäft ließ mir oft keine andere Wahl als so zu handeln, wie ich handelte. Was richtig war oder auch nicht, weiß man immer erst später. So gesehen ist die Vergangenheit Maßstab für die Zukunft. Und deshalb werde ich im Ruhestand achtsamer sein mit der Zeit die mir noch bleibt und werde versuchen, so zu leben, als sei jeder Tag mein Letzter."

"Ganz so ist es nicht gekommen, dazu warst du zu aktiv," ging es mir durch den Kopf als ich den Brief meiner Frau an ihre Freundin aus dem Jahre 1997 las, den ich mit vielen anderen ausgewählten Dingen von ihr aufbewahre. Glückwunschkarten, ein kleiner Porzellanengel, ein dünnes, silbernes Armband, ein hölzerner Glückspilz, das Rezept für meinen Lieblingseintopf – „falls du mal allein bist“, sagte sie damals - und vieles mehr, was mich heute an unser gemeinsames Leben erinnert.

Ganz allmählich und ohne dass ich es vorhatte, wurde das für diese Sachen reservierte Schrankfach für mich zu einer Art kleiner Gedenkstätte. Beim Öffnen halte ich immer kurz inne, um die „Splitter der Vergangenheit“, welche mit den darin untergebrachten Kleinigkeiten in Verbindung stehen, vor meinem inneren Auge zu neuem Leben erwachen lassen zu können. Diese Gegenstände, materiell wertlos, wurden so durch ihr bloßes "Vorhandensein" für mich zu unersetzlichen Kostbarkeiten.

Das alte, rote Portemonnaie zum Beispiel, welches bei mir immer für Heiterkeit sorgte, weil sie es wegen der Unmenge Quittungen nicht mehr schließen konnte. Oder der Führerschein der ersten, grauen Generation. Das Passfoto offenbarte, wie hübsch sie mit einundzwanzig Jahren war. Fast noch jugendlich wirkte sie und strahlte doch schon viel Reife aus durch ihre Verantwortung als Älteste von mehreren Geschwistern. Oder der aufbewahrte Einkaufszettel, der ihre weiche, harmonische Handschrift zeigte, die über die Jahrzehnte immer gleich blieb. Ihre zuletzt getragene Armbanduhr, deren Zeiger irgendwann im Jahreslauf stehen geblieben waren glitt mir durch die Hand und mir kam in den Sinn, wie unentschlossen sie damals war, sich zwischen zwei ähnlichen Uhren entscheiden zu müssen. Viel länger aber betrachtete ich die von einem Gummiband zusammengehaltenen Bilder ihrer Geschwister, die vor- oder kurz nach ihr den Weg in die Ewigkeit gegangen waren. Vielleicht sehen deren Hinterbliebene genauso wie ich in ihrer Trauer trotzig jeden neuen Tag als Herausforderung und Mutprobe an. Wenn auch der Schmerz in Wellen kam und kommt – manche Tage schlimmer, manche milder – wird jeder Trauernde für sich neue Kraft gefunden und eine neue Sicht auf die Ereignisse entwickelt haben, welche geboren sind aus eben diesem Schmerz und dem Alleinsein, die zunächst unerträglich schienen.

Denn mit dem Vergehen der Monate und dem Wechsel der Jahreszeiten glätteten sich die Wogen etwas, welche die Seele aufwühlte und so etwas wie Stille senkte sich nieder. Wenn auch die vertrauten Geräusche nie wieder erklingen werden, liegt doch weiter eine Atmosphäre des Zusammengehörens in der Luft und wird am Totensonntag beim Gang zum Friedhof und zur letzten Ruhestätte besonders intensiv sein. 

 
 
 
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